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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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es soweit, wenn Wind und Wetter günstig sind. Das heißt, wenn du immer noch willst.« Da konnte sie kaum einen Rückzieher machen.
    Ihre Schwestern waren entsetzt. »Wie kannst du so tollkühn sein? Warum mußt du immer anders sein, Mary Anne?« Sie hatte sich von ihnen versprechen lassen, daß sie ihren Ehemännern und vor allem dem alten Herrn nichts sagen würden.
    Die Fahrt war auch sehr teuer. Aber das war kein Problem, da Edward Bull der Erbe der Brauerei war. Mary Anne war die einzige Tochter des alten Herrn, die jung geheiratet hatte, und sie war hübsch. Lebhaft, mit haselnußbraunen Augen und einer weißen Strähne in den braunen Locken, die sie sehr vornehm aussehen ließ, besaß sie eine Eleganz und einen Stil, der ihren Schwestern fehlte.
    Innerhalb von Sekunden war der Ballon auf einer Höhe von hundert, hundertfünfzig, zweihundert Metern und stieg noch weiter. Dann drosselte der Ballonführer das Tempo, das Gefährt schwebte ruhig, und Mary Anne spürte, wie ihre Panik nachließ. Nun konnte sie über den Korbrand auf London hinabspähen und wurde mit einem wundervollen Ausblick belohnt. Das Bautempo hatte sich in den letzten zwanzig Jahren nicht verringert. Am Südufer zogen sich die Häuser fast lückenlos von Southwark bis Clapham hin; die Dörfer Chelsea und Kensington am Nordufer wurden fast gänzlich von Häuserreihen in nachgemacht georgianischem Stil verschluckt, und noch weiter oberhalb der City wurden gerade die Wälder von Islington abgeholzt. Der Lavendelhügel war jedoch immer noch ein duftendes Feld, der größte Teil von Fulham bestand noch aus Obstgärten und Gärtnereien, und oberhalb des Regent's Park bis nach Hampstead war noch offenes Gelände. Man war davon ausgegangen, daß der Wind von Westen wehte und sie so über Süd-London Richtung Blackheath fahren würden, doch nun bemerkte Mary Anne, daß sie nach Norden trieben. Wenn sich nichts mehr änderte, würden sie in den Feldern hinter Islington landen. »Dann kommen wir zu spät zu dem alten Herrn«, meinte Bull.
    Doch Mary Anne spürte plötzlich eine Welle wilder Ausgelassenheit. »Es ist mir egal!« rief sie. »Es ist wundervoll!«
    Ihr Mann lachte. »Schau«, sagte er. »Wir fahren direkt über das Parlament.«
    Die Houses of Parliament waren ein interessanter Anblick. Vor siebzehn Jahren hatte irgendein Beamter beschlossen, daß man die Dokumente der alten Schatzkammer durchforsten müsse, und als er in den modrigen Kellern Zehntausende ordentlich zusammengebündelter Kerbhölzer fand, mit denen man früher Schulden und Zahlungsbeträge markiert hatte – manche davon lagen seit Thomas Beckets Zeiten hier –, entschied er, daß man sie verbrennen solle. Seine Untergebenen erledigten das so gründlich, daß sie den gesamten Westminster-Palast anzündeten, und bis zum nächsten Morgen war bis auf die robuste Westminster Hall alles niedergebrannt. Um die alte normannische Halle herum erhob sich nun ein neuer Palast. Das gotisch inspirierte Gebäude aus hellbraunem Stein, entworfen von dem Londoner Architekten Barry, mit dem von Pugin gestalteten prächtigen Inneren im Stil des Mittelalters war eine passende Ergänzung für die Abtei daneben. Das House of Commons war bereits fertig, am House of Lords wurde noch gearbeitet, und am östlichsten Ende nahe der Westminster-Brücke sah Mary Anne den leeren Sockel des großen Uhrturms, der alles andere überragen sollte.
    Von Westminster aus schwebten sie weiter über Whitehall bis Charing Cross. Vor ein paar Jahren hatte man den königlichen Marstall abgerissen und einen riesigen Platz, den Trafalgar Square, angelegt, in dessen Mitte eine hohe Säule mit einer Statue Nelsons stand. Als sie gerade über den Seehelden flogen, drehte der Wind und trug sie wieder zurück zum Fluß. Ein paar Minuten später fuhren sie über Bankside und Southwark in die Richtung von Blackheath, bis der Ballonführer so sanft wie möglich landete, keine halbe Meile vom Haus des alten Herrn entfernt. Eine glückliche, aufgeregte Mrs. Bull stand wieder auf festem Boden, küßte ihren Mann und erklärte triumphierend: »Ich glaube, wir werden die ersten sein!«
    Um die Mitte des Nachmittags machte sich eine andere Person auf den Weg nach Blackheath, denn an diesem Tag sollte der alte Herr unerwarteten Besuch bekommen.
    Das Westend hatte seit zwei Jahrhunderten expandiert, doch die Entwicklung des Eastends war jünger. Unmittelbar östlich vom Tower begannen die Docklands mit dem St. Katharine's Dock und

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