London
erstreckten sich flußabwärts durch Wapping und Limehouse bis zu der großen Flußschleife, die den Vorsprung der Isle of Dogs bildete, wo man die riesigen Becken der Westindiendocks angelegt hatte. Oberhalb dieser Docklands, beginnend am Aldgate in der Stadtmauer, hatte es immer eine Reihe einfacher Siedlungen gegeben: zuerst Spitalfields, wo sich die hugenottischen Seidenweber niedergelassen hatten, dann Whitechapel, Stepney, Bow und Poplar. Mittlerweile waren sie alle zu einer schmutzigen, ausufernden Vorstadt zusammengewachsen – Docks, kleine Fabriken, Klitschen, in denen unglaubliche Ausbeutung herrschte, und heruntergekommene Straßen, jede mit ihrer ganz speziellen Anwohnerschaft. Arme Immigranten kamen in der Regel ins Eastend, und es gab kaum ärmere als die letzte Gruppe von Einwanderern, die sich in den Straßen Whitechapels zusammendrängten.
Es hatte immer eine irische Bevölkerungsgruppe in London gegeben. Seit dem vorigen Jahrhundert lebte eine wachsende Gemeinde in den Mietskasernen des Kirchspiels St. Giles, westlich von Holborn. Doch das war nichts im Vergleich zu der Einwanderungswelle der letzten sieben Jahre, verursacht durch eine einzige Feldfrucht, die keinen Ertrag mehr brachte. Jahrelang hatte eine zahlreiche und relativ dichte Bevölkerung, die auf einem Teil des besten Ackerlandes in Europa lebte – das meiste davon in der Hand abwesender englischer Grundbesitzer –, sich vor allem von der äußerst nahrhaften Kartoffel, die ursprünglich aus Amerika stammte, ernährt. Als es sieben Jahre hintereinander nur Mißernten gab, kam es zu einer furchtbaren Krise. Auswandern oder verhungern war die Alternative. So kam es zu dem gewaltigen Exodus, von dem Irland sich eineinhalb Jahrhunderte lang nicht mehr erholen sollte.
Die Menschen flohen nach Amerika, nach Australien und in die englischen Hafenstädte, natürlich auch nach London. Die größte Londoner Gruppe hatte sich in Whitechapel niedergelassen, wo es in den nahen Docks Arbeit gab. Von einer dieser vor allem von Iren bevölkerten Straßen war die unerwartete Besucherin zu dem alten Herrn aufgebrochen.
Der alte Herr mochte es, die ganze Familie um sich versammelt zu sehen. Mit seinem weißen Bart und dem rosigen alten Gesicht sah er wie ein gütiger Monarch aus. Selbst im Sommer trug er am liebsten einen schweren Gehrock und ein weißes Seidenhalstuch, das mit einer Perlennadel befestigt war. Sein georgianisches Herrenhaus in Blackheath wurde von einem Butler und acht Bediensteten geführt, und es hieß, er habe ein Einkommen von zehntausend Pfund im Jahr. Der stille, freundliche alte Herr verlangte nichts außer Pünktlichkeit.
Um fünf Uhr, nachdem die Kindermädchen alle Enkelkinder fortgebracht hatten, kündigte der Butler das Dinner an. Abgesehen von dieser altmodisch frühen Stunde verlief alles ganz modern. Die Gentlemen führten die Damen in das große Eßzimmer. Der alte Herr sprach das Tischgebet, danach setzten sich alle. Der riesige Tisch mit der weißen Damastdecke, dem schönen Geschirr und dem eindrucksvollen silbernen Tafelaufsatz bot einen vornehmen Anblick. Da der alte Herr Witwer war, bat er in der Regel eine seiner Tochter, die Rolle der Gastgeberin zu übernehmen, und heute war seine Wahl auf Mary Anne gefallen. So saß sie ihm gegenüber am anderen Kopfende, einen älteren Nachbarn zur Rechten und den Jungen, den Barnikel mitgebracht hatte, zur Linken. Während der Suppe machte sie höfliche Konversation mit dem alten Gentleman, und erst beim Fisch wandte sie ihre Aufmerksamkeit Meredith zu.
Mary Anne hatte vom Triumph ihrer Ballonfahrt noch ganz rosige Wangen. Es war nicht mehr die Rede davon, dieses Abenteuer vor dem alten Herrn geheimzuhalten; sie und Edward waren dem alten Mann begegnet, als er mit seinem Ebenholzstock über die Heide kam, um sich den gelandeten Ballon anzusehen. Er war sehr erstaunt, sie anzutreffen, aber er schien die Sache eher amüsant zu finden. »Er hat dir immer alles durchgehen lassen, Mary Anne«, bemerkte Harriet zu ihrer Schwester.
Sie war mit ihren Schwestern und all den Kindern zu beschäftigt gewesen, um dem jungen Mann vor dem Essen viel Aufmerksamkeit zu schenken. Sie stellte nun fest, daß sie wohl nur zwei oder drei Jahre älter war als er, aber eine ganze Welt lag zwischen einer jungen Ehefrau und einem Jugendlichen, der gerade die Schule hinter sich hatte.
Sie fand ihn gut aussehend und sehr liebenswürdig; er war ruhig und höflich, aber gar nicht schüchtern. Er
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