London
erklärte er und führte sie hinaus. Zehn Minuten lang saß Lucy draußen in der Kälte und überlegte. Silas hatte Tochter. Vielleicht hätte eine von ihnen Mitleid mit Jenny? Aber wer waren sie, und wo?
Plötzlich erinnerte sich Lucy an etwas, das man ihr erzählt hatte. Zu Beginn ihrer Regierungszeit hatte Königin Viktoria angeordnet, daß alle Geburten, Heiraten und Todesfälle, bisher nur im jeweiligen Kirchspiel verzeichnet, in einem einzigen Register für ganz London erfaßt wurden, das der Öffentlichkeit zugänglich war. Wenn ich die Eheschließungen der Tochter finden könnte, dachte Lucy, kann ich vielleicht ihre Namen herausfinden. Sie erkundigte sich bei einem vorbeikommenden Rechtsanwalt nach der Adresse, und am frühen Nachmittag stand sie vor den umfangreichen Verzeichnissen, nach Vierteljahren geordnet, in denen auf dickem Pergamentpapier jede Heirat in England niedergeschrieben war.
Lucy hatte keine Ahnung gehabt, daß es so viele Doggets gab. Sie übersah Charlotte, weil die Familie bei ihrer Heirat noch nicht nach Blackheath umgezogen war, fand aber ein wenig später einen anderen Eintrag: Dogget, Esther, mit Silversleeves, Arnold. Konnte das eine Tochter sein? Wo war sie jetzt? Wie konnte man die Adresse herausfinden? Dann fiel ihr etwas ein, das sie im Büro der Anwälte gesehen hatte, eine Art Adreßverzeichnis.
Da der Earl of St. James ausreichend Zeit und gute Laune hatte, beschloß er, einen Spaziergang zu machen. Sein Heiratsantrag war ein großer Erfolg gewesen. Er hatte Nancy zu einer Spazierfahrt begleitet. Und an der Stelle, wo der westliche Teil des Hyde Park in die Kensington Gardens überging, hatte er sie gebeten, ihn zu heiraten. Sie hatte um Bedenkzeit gebeten – das erforderte natürlich das gute Benehmen –, aber nur um ein paar Tage, und er hatte kaum Zweifel, daß die Antwort ein Ja sein würde. »Natürlich müssen Sie auch noch meinen Vater fragen«, hatte sie ihn ermahnt.
Nun fühlte er sich so fröhlich und so sicher, daß er das Mädchen wirklich gern hatte, daß er sich ein Geschenk gönnte. Es gab viele Gemäldehändler in London, aber am liebsten ging er in die Galerie des Franzosen Durand-Ruel in der New Bond Street. Seit kurzer Zeit sammelte der Earl Bilder der Themse. Er hatte eines von dem amerikanischen Maler Whistler gekauft, der in London lebte, aber dessen Preise waren zu hoch. Für weniger Geld konnte er bei Durand-Ruel ein Bild von dem unmodernen, aber wunderbaren französischen Künstler Claude Monet kaufen, der oft nach London kam, um den Fluß zu malen.
Sowohl seine Frau als auch seine Tochter hatten bemerkt, daß Gorham Dogget seit gestern besorgt schien. Zweimal war er geschäftlich unterwegs gewesen, und nun, als er in der Eingangshalle saß, wirkte er ungewöhnlich nervös. Dabei befand er sich an seinem Lieblingsort in London.
In ganz Europa gab es wahrscheinlich nichts, das mit dem Hotel Savoy vergleichbar war. Ersonnen von D'Oyly Carte, bot das neueröffnete Hotel an der Stelle des alten SavoyPalastes den neuesten amerikanischen Komfort, verbunden mit europäischer Vornehmheit: ein Meisterwerk. Statt des üblichen Marsches in ein Badezimmer auf dem Gang, was selbst in den besten Hotels üblich war, hatte jede der luxuriösen Suiten des Savoy ihr eigenes Bad. Chefkoch war der berühmte Escoffier; Direktor war Cesar Ritz – ein Unternehmer, der diskret alles arrangierte.
Dogget schien erfreut, den Earl zu sehen, und lud ihn in eine ruhige Ecke ein, wo sie sich unterhalten konnten. Seine Frau und seine Tochter würden gleich herunterkommen, erklärte er und fragte, ob St James in der Zwischenzeit etwas besprechen wolle. Das Signal war deutlich, und der Earl bat höflich um die Hand seiner Tochter.
»Ich kann nicht für sie antworten«, erwiderte der Bostoner, »aber Sie scheinen mir ein prächtiger Mann zu sein. Als Nancys Vater muß ich Ihnen jedoch ein paar Fragen stellen. Ich vermute, Sie können sie ernähren?«
»Unser Reichtum ist geschrumpft, Mr. Dogget. Der Grundbesitz wirft wenig ab, obwohl ich natürlich noch andere Einkünfte habe. Aber das Haus und der Besitz in Bocton sind in gutem Zustand, und es gibt auch noch den Familienschmuck…« Er war zu wohlerzogen, um das andere Pfand zu erwähnen – den Titel.
»Sie haben also genug zum Leben?«
»O ja.« Im Augenblick stimmte das noch.
»Und Sie lieben meine Tochter aufrichtig, um ihrer selbst willen? Das ist mir ein Anliegen, Lord St. James.«
»Absolut.« Eine glatte Lüge
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