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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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einfach gekleidete alte Frau schien harmlos. Lucy hatte zwei Tage damit verbracht, sich respektable Kleider auszuleihen. In ihrem grauen Mantel, dem schwarzen Hut und Kleid hätte man sie für eine achtbare Haushälterin halten können.
    »Ich wollte Sie allein sprechen, weil ich Sie nicht in Verlegenheit bringen wollte«, erklärte sie. Sie erzählte in einfachen Worten ihre Geschichte, und als sie geendet hatte, starrte Esther Silversleeves sie entsetzt an.
    »Sie meinen, der reiche Verwandte war…«
    »Oben in Blackheath. Ein sehr stattlicher Gentleman, muß ich sagen. Sie müssen sehr stolz auf ihn gewesen sein.«
    Der dunkle Abgrund war da; das leise Platschen eines Ruders im Nebel; der dumpfe Aufprall einer Leiche im Boot. Dinge, die Esther kaum gekannt, aber immer gefürchtet hatte. Ein kalter, feuchter Alptraum, der in das respektable Haus in Hampstead Heath eindrang. Esther dachte an Arnold, an ihre Söhne, an den jungen Penny, der den Nil hinauffuhr, an die Bulls, an Lord St. James.
    Und an Silas, den Abfallfischer. »Brauchen Sie Geld?« fragte sie schließlich heiser.
    Lucy schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht gekommen, weil ich um Geld betteln will. Nein, nur das Mädchen braucht eine anständige Stelle, als Dienstmädchen, wissen Sie. In einem anständigen Haus, wo es sicher ist, wo man gut zu ihm ist. Ich habe gehofft, daß Sie vielleicht etwas wissen.«
    »Wie lange ist es her, seit Sie zu meinem Vater gekommen sind?«
    »Achtunddreißig Jahre.«
    »Sie müssen große Not erduldet haben.«
    »Ja«, erwiderte Lucy. Und dann brach sie plötzlich zusammen. »Es tut mir leid«, murmelte sie, und ihr ganzer Körper bebte. »Es tut mir so leid.«
    »Sie soll in Sicherheit sein. Sie soll hierher kommen«, erwiderte Esther Silversleeves zu ihrem eigenen Erstaunen.
    Für einen Mann, der stets wie aus dem Ei gepellt war, sah der Earl of St. James an diesem Tag nicht besonders gut aus. Er hatte sich einen Mantel mit Schultercape über das offene Hemd geworfen, sich einen Bowler auf den Kopf gestülpt und geistesabwesend einen roten Seidenschal um den Hals geschlungen, bevor er nach draußen gestürmt war und eine Droschke gerufen hatte. Sogar seine Schlüssel vergaß er. Barnikel und die Charlotte Rose waren gerade eingetroffen, drei Wochen zu spät.
    Der vergangene Monat war für St. James hart gewesen. Da war zum einen die peinliche Sache mit Nancy. Ein Gentleman sollte sein Wort nicht rückgängig machen, aber diese Eheschließung konnte er natürlich nicht weiterbetreiben. Er hatte ihr einen Brief geschrieben, der andeutete, daß manches in seiner eigenen Vergangenheit es notwendig machte – daß es sogar der Anstand gebot –, seinen Antrag zurückzuziehen. Er tröstete sich mit dem Gedanken, daß der Bostoner, nachdem er sein Vermögen verloren hatte, ihn wohl kaum noch einmal in London in Verlegenheit bringen würde. Das einzige Rätsel war ein Gerücht, daß Mr. Dogget sich doch auf seine Nilkreuzfahrt begeben habe.
    Während die Tage vergingen, hatte er ängstlich auf Neuigkeiten von den Klippern gewartet. Zuerst war die niederschmetternde Nachricht eingetroffen, daß man die Cutty Sark die Küste von Kent heraufkommen sah; dann ihre Ankunft im Londoner Hafen und das Wissen, daß er seine Wette verloren hatte. Dann Tag für Tag das Warten ohne weitere Nachrichten.
    Nun stand er am Kai, und Barnikel erzählte ihm, wie er beim Versuch, die Cutty Sark zu überholen, in einen Sturm geraten war, einen Mast verloren hatte und an einem südamerikanischen Hafen haltmachen mußte, um das Schiff zu reparieren. Seufzend blickte er hinüber zu der schnittigen Cutty Sark auf ihrem Liegeplatz. »Ich weiß jetzt, daß kein Schiff auf dem Meer dieses jemals einholen wird.«
    »Sie hat mich zugrunde gerichtet«, sagte der Earl düster und ging. Ihm blieb nun wirklich nichts anderes mehr übrig, dachte er, während er in einer Droschke nach Hause fuhr. Das Haus am Regent's Park mußte er verkaufen, es kam viel zu teuer. Es war kein beglückender Gedanke, mit Lady Muriel ein kleineres Haus zu teilen. Vielleicht sollte er nach Frankreich gehen. Grimmig gestimmt, aber nachdenklich kam er zu Hause an und erfuhr die ungewöhnliche Neuigkeit, daß seine Halbschwester ausgegangen sei. »Sie hat nicht gesagt, wann sie zurückkommt«, fügte der Butler hinzu.
    St. James ging hinauf in seine Bibliothek und setzte sich in den großen Sessel. Es dauerte ein paar Minuten, bis er entdeckte, daß die Tür zu dem Raum, in dem sich

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