London
war keine Lüge, wenn sie bedeutete, sich einer Dame gegenüber galant zu zeigen, sagte sich der Earl.
»Gut.« Von weiteren Äußerungen wurde Dogget abgehalten, als Cesar Ritz, der sonst so diskrete Direktor, in einem unpassenden Moment bei ihnen auftauchte.
»Verzeihen Sie, Sir«, unterbrach er und reichte Dogget ein Blatt, auf das der Amerikaner einen gereizten Blick warf. »Nicht jetzt, Mr. Ritz!«
»Verzeihung, Sir. Sie sagten, die Angelegenheit würde heute vormittag erledigt… Ihre Frau und Ihre Tochter waren wochenlang hier, Sir. Das kann nicht so weitergehen.«
»Sie wissen genau, daß es da kein Problem gibt.«
»Wir haben eine Antwort auf eine Anfrage erhalten, die wir an Ihre Bankiers in Boston gerichtet haben, Sir.«
St. James schien es, als sei der Amerikaner sichtlich vor ihm gealtert. Er schrumpfte zusammen, dann erwiderte er barsch: »Ich habe immer noch ein Haus in Boston, Mr. Ritz. Das Savoy wird bezahlt werden; Sie müssen nur ein wenig warten. In ein oder zwei Tagen muß ich ohnehin aufbrechen.« Etwas verlegen blickte er auf St. James. »Ein paar ungünstige Investitionen, fürchte ich, Lord St. James. Mein Vermögen ist anscheinend weg. Aber ich denke, ich kann mit der Zeit doch noch etwas für Nancy tun. Ich habe einmal ein Vermögen gemacht, also schaffe ich das auch ein zweites Mal. Vielleicht kommen Sie mit auf die Ausfahrt«, schlug er vor.
Doch der Earl of St. James entschuldigte sich und zog sich hastig zurück. Nachdem er fort war, sah Dogget zu Cesar Ritz auf. »Danke, Mr. Ritz. Ich glaube, die Sache hat sich erledigt.«
Der Brief war in einer schönen Handschrift geschrieben – sauber und gelehrtenhaft, aber auch sehr männlich. Violet war im Zimmer, als Mary Anne ihn öffnete. »Von Colonel Meredith!« sagte sie, bevor sie nachdenken konnte.
Das Mädchen warf Mary Anne einen wissenden Blick zu, den sie höchst unpassend fand. »Was schreibt er?«
»Daß er in zwei Wochen bei Hatchards eine Lesung seiner persischen Gedichte hält. Jedermann kann hingehen, aber er wollte es uns persönlich wissen lassen.« Klug gemacht, dachte sie. Die Einladung zu einem Rendezvous, aber vollkommen unschuldig; es war nicht einmal nötig zu antworten. Sie konnte mit Violet hingehen oder allein. Sie konnte auch überhaupt nicht hingehen. Wäre sie doch nicht vor dem Mädchen damit herausgeplatzt.
»Gehst du hin, Mama?«
»Ich glaube nicht«, meinte Mary Anne.
In der letzten Zeit waren so viele Dinge geschehen, daß Esther Silversleeves sich kaum an eine Zeit erinnern konnte, in der sie mehr nachzudenken gehabt hätte. Drei Tage nach Weihnachten war ihr Sohn ins Savoy gebeten worden, wo man ihm einen Stapel juristischer Dokumente gegeben hatte, die er bearbeiten sollte. Und Arnold war noch nie so beschäftigt gewesen. »Diese Amerikaner haben solch kühne Träume«, sagte er ihr. »Ich wünschte, ich hätte mein ganzes Leben für solche Männer arbeiten können.« Erstaunlich war jedoch vor allem, daß der Bostoner ihren Schwager Penny am nächsten Tag fragte, ob sein Sohn ihn und seine Familie auf ihrer Kreuzfahrt begleiten wolle.
»Er soll einfach alles stehen und liegen lassen, das Schiff von Southampton nehmen und drei Monate unterwegs sein – den Nil hinauf!« erzählte Harriet Penny ihr aufgeregt. »Ich glaube, er möchte, daß unser Sohn seiner Tochter Gesellschaft leistet«, fügte sie hinzu.
Trauriger war es, daß kurz nach Neujahr die Cutty Sark zurückgekehrt war, während es von der Charlotte Rose noch keine Nachricht gab. »Er schafft es schon«, sagte ihre Schwester Charlotte, als Esther sie besuchte. »Er kommt immer heil nach Hause.«
Aber Esther sah, daß Charlotte sich Sorgen machte.
Weniger wichtig, aber höchst seltsam war der kleine Zwischenfall vor drei Tagen. Zwar hatte die Entwicklung des Telefons Arnold Silversleeves nicht so fasziniert wie elektrische Bahnen, aber er hatte gleich eines angeschafft, als eine Vermittlung für Hampstead eingerichtet wurde. Aber wem konnte nur die merkwürdige Frauenstimme gehören, die vor drei Tagen angerufen hatte?
»Mrs. Silversleeves? Sind Sie die Tochter des verstorbenen Mr. Silas Dogget aus Blackheath?«
Kaum hatte Esther bejaht, hing die Anruferin ein. Gerade dachte sie wieder an die seltsame Anruferin, als es an der Tür läutete und das Mädchen verkündete: »Miss Lucy Dogget, Madam.«
Lucy bestand darauf, sie könne ihr Anliegen erst vorbringen, wenn sie allein seien. Esthers Neugier siegte schließlich, die
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