London
ehrbarer Ladys als sogenannte Stimmrechtlerinnen gegen diese Ungerechtigkeit protestiert, aber nichts erreicht. Vor fünf Jahren war nun eine neue Vereinigung aufgetaucht, angeführt von der leidenschaftlichen Mrs. Pankhurst. Bald waren die Ladys als »Suffragetten« bekannt. Taten, nicht Worte, war ihr Motto. Sie wählten sich ihre eigenen Farben – Rot, Weiß und Grün –, die sie auf Schärpen, Fahnen und Plakaten verwendeten; sie hielten öffentliche Versammlungen ab und störten bei Parlamentswahlen. Und sie hatten sich darauf verlegt, auf der Straße bekannte Politiker anzusprechen.
Vor einer Woche hatten zwei ehrbar aussehende Damen, die die ausladenden, mit Federn geschmückten Hüte trugen, die in England zur Zeit König Eduards modern waren, vor dem Amtssitz des Premierministers, Downing Street 10, gewartet. Als Mr. Asquith erschien, gesellten sie sich zu ihm, eine links, eine rechts, und schritten zur Freude des Journalisten der Times und des Photographen, dem man einen Wink gegeben hatte, den ganzen Weg entlang Whitehall neben ihm her, wobei sie sich höflich erkundigten, was er für das Frauenwahlrecht unternehme, bis er sich in den Schutz der Parlamentsgebäude rettete. Eine der beiden Damen wurde am nächsten Tag in der Zeitung als Violet identifiziert.
»Du hast Glück, daß man dich nicht verhaftet hat«, sagte Bull.
Edward Bull war sanfter geworden, seit er nach Bocton gezogen war. Seine Söhne führten nun die Brauerei, und er genoß das Leben eines Gutsherrn. In den Grundbüchern hatte er entdeckt, daß der Besitz einmal einer Familie namens Bull gehört hatte. »Die haben mit uns natürlich nichts zu tun«, hatte er munter bemerkt. Er wurde nicht einmal ärgerlich, als Violet ihre Sympathien für die Suffragetten erklärte, obwohl seine eigene Haltung unverändert geblieben war. Frauen sollten das Haus zieren, und nicht nur die Männer, sondern auch die meisten Frauen stimmten ihm zu. Eine Frauenorganisation gegen das Stimmrecht war gegründet worden; die prominente Romanschriftstellerin Mary Augusta Ward schrieb in ähnlichem Sinn. Frauen würden durch Politik verdorben; Ritterlichkeit würde aussterben. Es war ein merkwürdiger Zug der spätviktorianischen Zeit und der eduardischen Herrschaft, daß sich selbst Frauen aus der Mittelschicht – teilweise aufgrund eines Wiederauflebens der ritterlichen Artusliteratur, teilweise aufgrund wachsenden Wohlstandes, der einem größeren Kreis von Frauen ein müßiges Leben ermöglichte – einbildeten, so zerbrechlich zu sein wie eine Modedame des achtzehnten Jahrhunderts. Ihre weiblichen Vorfahren hätten darüber nicht wenig gestaunt.
»Alles nur, weil ich dich nicht auf die Universität gehen lassen wollte«, schloß Bull.
»Nein, Papa. Ist es richtig, daß eine Frau Bürgermeisterin, Krankenschwester, Ärztin, Lehrerin – oder auch eine gute Mutter sein kann, ihr aber das Wahlrecht verweigert wird? Da war es ja im Mittelalter besser! Hast du gewußt, daß Frauen damals den Londoner Gilden beitreten konnten?«
»Sei nicht albern, Violet.« Edward kannte die City; der Gedanke, eine der Livreegesellschaften könnte Frauen zulassen, war absurd. Er wäre erstaunt gewesen zu erfahren, daß seine eigene Brauerei durch Dame Barnikel an ihn gekommen war. »Jedenfalls unterstützt euch keine einzige politische Partei.« Das stimmte. In jeder Partei gab es Befürworter und Gegner, aber keiner der Führer konnte entscheiden, ob ein Frauenwahlrecht zu seinem politischen Vorteil wäre. Selbst die Radikalsten waren weit mehr interessiert daran, daß mehr Arbeiter wählen durften, als sich um Frauen zu kümmern.
»Dann machen wir weiter, bis sie es tun«, konterte Violet.
»Aber eure Kampagne gibt ein schlechtes Beispiel«, bekannte er. »Verstehst du nicht, daß es nur die niederen Klassen ermutigt, dasselbe zu tun, wenn Leute wie wir anfangen, öffentlich zu agitieren? Und die Lage ist schon gefährlich genug.«
Dieser letzten Äußerung konnte Violet zustimmen. Als das Jahrhundert dahingegangen war und Königin Viktoria mit ihm, sah sich der neue König Eduard einer zunehmend unsicheren Welt gegenüber. Den Krieg gegen die holländisch sprechenden Buren in Südafrika hatte man nur mit Mühe und einigen Zweifeln an seiner moralischen Berechtigung gewonnen. In Indien begannen die Menschen gegen die britische Herrschaft zu murren. Obwohl der deutsche Kaiser ein Neffe König Eduards war, erweiterte das Deutsche Reich seine militärische und koloniale
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