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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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ist reich und ein Gentleman. Papa wird froh sein, mich los zu haben. Und wenn nicht, sorge ich für einen Skandal«, fügte Violet kühl hinzu.
    »Aber Kind«, jammerte Mary Anne. »Denk an sein Alter. Das ist unnatürlich.«
    »Ich liebe ihn! Wir sind leidenschaftlich ineinander verliebt.«
    Bei dem Wort »leidenschaftlich« zuckte Mary Anne unwillkürlich zusammen, dann sah sie dem Mädchen voll ins Gesicht. »Sicher… du meinst doch nicht…«
    »Ich würde es dir nicht sagen, wenn es so wäre«, erwiderte Violet sanft. »Aber immerhin, Mutter, eines ist jedenfalls sicher. Du kannst ihn nicht haben.«

DIE SUFFRAGETTE
1908
    DER KLEINE HENRY MEREDITH WEINTE. Gerade war er ordentlich verdroschen worden. Die Tatsache, daß Mr. Silversleeves, Housemaster in seinem Internatsgebäude und Mathematiklehrer, mit ihm verwandt war, hatte keinerlei Unterschied gemacht; zudem war diese Bestrafung nichts Ungewöhnliches. Rohrstock, Rute und Riemen wurden in England, Amerika und vielen anderen Ländern ausgiebig angewandt. Während Eton und ein oder zwei andere Schulen ein individualistischeres Ethos pflegen mochten, gehörte Charterhouse zu den Privatschulen, deren erster Zweck darin bestand, ihren Zöglingen die Frechheit auszuprügeln. Silversleeves tat nur seine Pflicht, wie er und der kleine Meredith wohl wußten.
    Es gab noch einen Grund für das Elend des Jungen – er war furchtbar hungrig. Die Schule im Charterhouse bestand seit 1614. Sie war siebzig Jahre, nachdem Heinrich VIII. die letzten Mönche verjagt hatte, gegründet worden. Vor kurzem war die Schule in ein neues Gebäude dreißig Meilen südwestlich von London umgezogen – eine berühmte alte Schule, und die Eltern bezahlten gutes Geld, um ihre Söhne hierher zu schicken.
    Doch entweder wußten sie es nicht oder hielten es nicht für wichtig, daß ihre Kinder hier kaum etwas zu essen bekamen. Brotscheiben, nur dünn mit Butter bestrichen, Eintopf oder Schleimsuppe in winzigen Mengen, Kohl, dafür Unmengen eines kaum eßbaren süßen Brotpuddings – das war das Essen privilegierter Schuljungen, die streng erzogen werden sollten. Wer das überstand, sollte das Empire regieren. Ohne die Pakete seiner Mutter hätte Meredith Hunger gelitten.
    Aber als er zu seiner harten Bank in dem Klassenzimmer zurückschlich, zu dem Pult, in dem die Namen früherer Leidtragender tief eingeritzt waren, mußte Henry Meredith seine Tränen nicht wegen des Schmerzes oder des Hungers hinunterschlucken, sondern wegen eines Zeitungsartikels, den ein älterer Junge ihm an diesem Morgen gezeigt hatte.
    Als der Einspänner an diesem Herbsttag durch das Parktor von Bocton fuhr, konnte Violet immer noch nicht begreifen, daß ihre Mutter nicht dasein würde. Mary Anne war im Jahr zuvor gestorben; von den vier Schwestern Dogget lebte nur noch Esther Silversleeves.
    Es war eine lange Auffahrt, und Violet umklammerte nervös die Hand ihrer sechsjährigen Tochter. Es gab jetzt kein Zurück mehr. Ich werde mich nicht unterkriegen lassen, redete sie sich selbst gut zu, als sie ihren Vater erblickte, der vor dem Haus auf sie wartete.
    Kompliziert wurde die Situation, weil Edward Bull so gut zu ihnen war. Da Meredith so kräftig und schlank geblieben war, hatte Violet gedacht, er würde sehr alt werden. Sie hatte zwei Söhne bekommen, und dann noch ihre kleine Tochter Helen, als Meredith schon über siebzig war. Es hatte sie sehr getroffen, als er vor drei Jahren plötzlich einem Herzanfall erlegen war und weniger Geld hinterlassen hatte als erwartet. Sie waren nicht arm, aber um einen angemessenen Haushalt aufrechtzuerhalten und die Schulen der Kinder zu finanzieren, nahm sie dankbar die Hilfe ihres Vaters an.
    Zwei Stunden lang, während sie durch den Wildpark spazierten und Edward Bull in dem alten ummauerten Garten mit seiner Enkelin spielte, sagte er nichts. Erst als die Haushälterin Helen in ihr Zimmer brachte und sie allein in der Bibliothek blieben, nahm er die Zeitung und legte sie neben Violet auf das Sofa. »Ich sehe, du hast mit dem Premierminister gesprochen.«
    Es war kein neues Thema, mit dem sie an den großen Mann herangetreten war. Seit der großen Wahlreform von 1832 war die Demokratie immer weiter vorangeschritten. Zwei weitere Gesetze hatten zuerst der Mittelschicht und dann den bessergestellten Arbeitern das Wahlrecht verliehen. Etwa zwei Drittel der volljährigen Männer in England konnten nun wählen – aber keine Frauen. Schon seit vierzig Jahren hatte eine Gruppe

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