London
anschauen. Sächsische Gebäude waren meist bescheidene, wenn auch mit reichen Schnitzereien verzierte Holzbauten. Selbst die wenigen Steinkirchen erweckten manchmal den Eindruck, als hätten sie ursprünglich aus Holz erbaut werden sollen. Im Gegensatz dazu waren die massiven Säulen und Rundbögen der Abtei in dem strengen normannischen Stil des Festlands gehalten. Sie wirkten überhaupt nicht englisch.
Der Witan hatte drei Männer zur Wahl. Nur einer, ein Neffe König Eduards, war ein legitimer Nachfolger, aber er war noch sehr jung und von einer ausländischen Mutter im Ausland aufgezogen worden. Er hatte in England keine Anhänger. Dann war da noch Harald, nicht von königlichem Blut, aber ein großer englischer Adliger, ein ausgezeichneter Kommandant und sehr beliebt obendrein. Der dritte war Wilhelm von der Normandie.
Vor vielen Generationen hatten die Wikinger die nördliche Küstenregion Frankreichs kolonisiert. Sie hatten sich mit der dort ansässigen Bevölkerung vermischt und sprachen inzwischen Französisch, doch die Wanderlust ihrer Vorfahren lag auch ihnen noch im Blut. Der letzte Herzog der Normandie hatte keinen legitimen Erben, sondern nur einen unehelich geborenen Sohn, der seine Nachfolge antrat. Wilhelm von der Normandie war skrupellos, ehrgeizig und wurde wohl auch durch seinen Status der Illegitimität getrieben. Er war ein furchterregender Gegner. Er heiratete in die Familie der Ehefrau Eduards des Bekenners ein und sah nun die Gelegenheit, dem kinderlosen Monarchen nachzufolgen und König zu werden. Von der anderen Seite des Kanals aus behauptete er, daß Eduard ihm den Thron versprochen habe.
Der Witan hielt die Krone über den Kopf des neuen Königs. Beim Krönungseid versprach der König Frieden, Ordnung und Barmherzigkeit. Danach erbat der Bischof Gottes Segen und salbte den König mit Öl. Erst dann wurden ihm die Krone König Alfreds und das Zepter als Zeichen der Macht und das Kreuz als Zeichen der Gerechtigkeit überreicht.
So fand nur wenige Stunden nach König Eduards Grablegung die traditionelle englische Krönung zum erstenmal in der Westminsterabtei statt. Als Leofric und Barnikel die stattliche Gestalt mit dem braunen Bart und den klaren, blauen Augen anblickten, die nun kühn auf dem Thron saß, keimte neue Hoffnung in ihnen auf. Der sächsische König Harald würde sicher ein guter Herrscher sein.
Als Barnikel von Billingsgate am Ende des Gottesdienstes aus der Abtei heraustrat, machte er einen großen Fehler.
Der verhüllte Mann, der Leofric und Barnikel beobachtet hatte, stand in der Nähe des Eingangs. Seine Kapuze hatte er inzwischen abgenommen. Eine sonderbare Figur. Sein schwarzer Umhang legte sich um ihn wie die Schwingen eines Vogels. Sein Gesicht war glattrasiert, sein Haupthaar kreisförmig und kurz geschnitten, wie man es in der Normandie trug. Das Auffälligste an ihm war die Nase in seinem blassen, ovalen Gesicht: nicht unbedingt breit, aber lang; nicht spitz, sondern abgerundet; nicht rot, aber leicht glänzend; eine dermaßen große Nase, daß sie nun, da er den Kopf gesenkt hielt, in die Falten seines Umhangs hineinzuragen schien wie der Schnabel eines Raben.
Als die Gemeinde heraustrat, sahen ihn auch die zwei Freunde. Er verneigte sich. Leofric erwiderte seine Verbeugung kurz.
Doch Barnikel knurrte ihn verachtungsvoll an. »Wir haben Gott sei Dank einen englischen König. Also steckt Eure große französische Nase nicht in unsere Geschäfte!« Damit marschierte er nach draußen, während Leofric leicht verlegen hinterhertrottete.
Der sonderbare Mann blieb stumm. Er mochte es nicht, wenn Leute etwas über seine Nase sagten.
Leofric musterte seine Tochter. Wie unschuldig sie doch wirkte! Er hatte sich immer für einen guten Vater gehalten. Wie konnte er ihr das nur antun?
Er saß auf einer groben Eichenbank. Vor ihm auf dem Tisch rauchte eine Lampe, die mit Fett brannte. Die Halle war sehr geräumig. Die Holzwände waren verputzt; an einer hing eine Stickerei, die eine Jagdszene zeigte. Es gab drei kleine Fenster, die mit geöltem Pergament bespannt waren. Auf dem Holzfußboden lagen Binsen. In der Mitte stand ein großes Becken mit glimmenden Holzkohlen, deren Rauch langsam zu dem strohgedeckten Dach aufstieg. Unter dem Raum befand sich ein großer Keller, der als Lager diente. Draußen war ein Hof angelegt, um den herum sich einige Außengebäude gruppierten, auch ein kleiner Obstgarten fehlte nicht. Sein Heim war eine improvisierte Version der
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