Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
Vom Netzwerk:
alten Heimstätte seines Vorfahren Cerdic drüben in Aldwych.
    Wieder grübelte er über die Botschaft nach, die er am Vortag erhalten hatte. Vielleicht gab es doch noch einen Ausweg, aber er sah keinen. Er mußte das Schreckliche tun.
    »Hilda!« rief er, und sie trat gehorsam neben ihn.
    Draußen hatte es aufgehört zu schneien, doch noch immer hing eine dichte Wolkendecke über der stillen Stadt.
    Obwohl Winchester im Westen noch immer der Hauptsitz der sächsischen Könige war, war London ein geschäftiger Ort. Über zehntausend Menschen – Händler, Handwerker und Kirchenleute – lebten in der Stadt. König Alfred hatte nach und nach die römischen Mauern der alten Stadt erneuert. Über die beiden Hügel hatten sich zwei sächsische Dörfer ausgebreitet, die mit einem Straßennetz verbunden waren und jeweils einen eigenen Markt hatten. Neue Hafenanlagen waren entstanden, und eine neue Holzbrücke gab es auch. In ihrer Nähe lag die Münzstätte. Doch mit den strohgedeckten Holzhäusern, den Scheunen, Hallen, Holzkirchen und morastigen Straßen wirkte das sächsische London nach wie vor wie ein großer Marktfleck.
    Es gab noch Erinnerungen an die römische Vergangenheit. Der Straßenverlauf der unteren der beiden römischen Durchgangsstraßen, die früher quer durch die Stadt geführt hatten, war noch erkennbar. Die Straße führte durch das Westtor, das inzwischen Ludgate hieß, in die Stadt hinein, überquerte den Westhügel unterhalb von St. Paul's und endete am Flußabhang des Osthügels am East Cheap, dem Markt im Osten. Die obere römische Durchgangsstraße war nicht mehr so klar erkennbar. Sie führte am Newgate in die Stadt und verlief oberhalb von St. Paul's und danach unterhalb des langen, freistehenden Platzes von West Cheap weiter zum Gipfel des Osthügels, bis sie sich schließlich zwischen ein paar Ställen verlor, wo ein sächsischer Pfad nun hinauf zum östlichen Hügel führte, der inzwischen aufgrund des hier angebauten Getreides Cornhill hieß.
    Vom großen Forum war nichts mehr übrig, vom Amphitheater nur noch ein vager Grundriß erkennbar, in dem inzwischen ein paar sächsische Häuser standen. Hier und da stieß man noch auf einen verfallenen Rundbogen oder auf ein Stück Marmor. Das einzige beeindruckende Gebäude der Stadt war der langgestreckte sächsische Bau von St. Paul's mit seinem hohen Holzdach.
    Auf dem Weg zum West Cheap führte auf der Südseite des Marktes eine Gasse neben einer winzigen sächsischen Kirche, die St. Mary geweiht war, hinunter zu einem alten Brunnen, neben dem ein stattliches Haus stand, an dem zur Verzierung ein schweres Schild hing, auf dem ein Stier abgebildet war. Niemand wußte mehr, wie das Schild dorthin gekommen war, doch der hier lebende, reiche, sächsische Kaufmann war allgemein als Leofric, der beim Bullen wohnt, bekannt.
    Hilda stand nun bescheiden vor ihm, in ein einfaches wollenes Gewand gekleidet. Er lächelte. Wie alt war sie eigentlich? Ihre Brüste begannen zu wachsen. Ihre mit Lederbändern befestigten Strümpflinge ließen wohlgeformte Waden erkennen. Sie hatte eine breite, glatte Stirn und blondes, feines Haar. Ihre blaßblauen Augen strahlten eine stille Unschuld aus, die sehr anziehend wirkte.
    Das Problem für Vater und Tochter lag auf dem Tisch vor Leofric. Es war ein kurzer Stock mit Einkerbungen von verschiedener Breite und Tiefe, ein Kerbholz. Die Kerben zeigten Leofrics Schulden und wiesen darauf hin, daß er kurz vor dem Ruin stand.
    Wie war es nur soweit gekommen? Wie andere große Londoner Kaufleute hatte er sein Geschäft auf zwei Standbeine gestellt. Er importierte französischen Wein und andere Waren durch einen Kaufmann in der normannischen Stadt Caen, und er exportierte englische Wolle an die großen Tuchhersteller von Flandern. Doch in letzter Zeit waren seine Geschäfte zu umfangreich geworden. Kleinere Schwankungen im Preis für Wein oder Wolle konnten kritische Auswirkungen haben. Dazu kam, daß er eine Schiffsladung Wolle auf See verloren hatte. Der Kredit von Barnikel hatte ihm über dieses Problem hinweggeholfen, aber er schuldete Becket in Caen noch das Geld für die letzte Schiffsladung Wein, und ihn mußte er nun vertrösten.
    Die Familie hatte immer an ihrem alten Sitz in Bocton in Kent festgehalten. Viele erfolgreiche Kaufleute in London hatten solche Ländereien; Barnikel etwa besaß ein großes Anwesen in Essex. Momentan konnte Leofric sein Geschäft nur mit den Einkünften aus seinem Landgut über Wasser

Weitere Kostenlose Bücher