London
London, verschafft, und nun konnte sich Ralph zum erstenmal in seinem Leben wichtig vorkommen. Die Tatsache, daß Mandeville ihn nur für weniger wichtige Aufgaben einsetzte, bei denen es vor allem auf Brutalität ankam, störte ihn nicht weiter. Er gehörte zur neuen Elite. Seit einem Jahr war er der Aufseher an der Baustelle des Towers von London. »Also, Osric«, sagte er nun kaltherzig, »was werden wir mit dir anstellen?«
Osric war ein schmächtiger Bursche. Er war erst sechzehn, doch sein hartes Leben und die Verstümmelung, die man ihm beigebracht hatte, ließen ihn alterslos erscheinen. Seine kurzen Beine waren krumm, seine Finger dick, seine ernsten Augen saßen in einem Kopf, der viel zu groß für seinen Körper war. Er kam aus einem Dorf im Westen Englands nahe der alten Siedlung Sarum. Nicht lange nach der Eroberung war das Dorf in die Hände eines der mächtigsten Magnaten des neuen Königs übergegangen. Unter den Hunderten von armen Familien auf dem riesigen Grundbesitz wäre Osrics Familie nicht weiter aufgefallen, und der reiche Adlige hätte nie von der Existenz Osrics erfahren, wenn dieser nicht einmal unsinnigerweise eine Falle aufgestellt hätte, die das Pferd eines Ritters stürzen ließ, wobei dieser sich den Arm brach. Der Junge hätte dafür auch mit dem Tod bestraft werden können, doch König Wilhelm hatte seinen Gefolgsleuten befohlen, Milde walten zu lassen. Also hatten sie dem jungen Osric nur die Nase aufgeschlitzt. Deshalb befand sich nun in der Mitte seines ernsten Gesichts eine riesige rotblaue Narbe. Er mußte durch den Mund atmen, und er haßte alle Normannen.
Der Magnat, der auch den stromaufwärts von London gelegenen Herrensitz Chelsea erhalten hatte, schickte den Jungen dorthin. Ein Jahr später verkaufte der Verwalter Osric an einen anderen Magnaten, an Geoffrey de Mandeville. Der Junge wußte nicht genau, ob er ein Leibeigener oder ein Sklave war, er wußte nur, daß Ralph Silversleeves ihm die Ohren abschneiden würde, wenn er Ärger machte. So wartete er also nervös, während der Aufseher über seine Strafe nachsann. Die Sonne brannte auf sie herab.
Der Tower lag erhöht in einer inneren Umfriedung. Östlich davon befand sich die alte römische Stadtmauer; an der West- und der Nordseite waren die Erdwälle und Palisaden der alten Holzburg an Ort und Stelle belassen worden. Innerhalb der Umfriedung gab es mehrere Werkstätten, Lager und Ställe.
Am Flußufer waren drei große Holzflöße vertäut. Auf dem einen lagen Kiesel, auf dem anderen rauher kentischer Kieselsandstein, auf dem dritten feinerer, blasser Caenstein aus der Normandie. Männer karrten die Steine vom Fluß zu den riesigen Grundmauern des Towers hinauf. Der Hauptturm hatte einen Grundriß von gut dreißig Quadratmetern. Die Ausgrabungen dafür waren nicht nur lang und tief, auch die Breite war erstaunlich. An der Basis waren die Mauern des neuen Towers über viereinhalb Meter breit.
Wie schwer doch diese Arbeit war! Monatelang karrte Osric nun schon Steine den Hügel hinauf, bis sein schmaler Rücken fast zu bersten drohte. Seine anfangs völlig wunden Hände waren inzwischen mit einer dicken Hornhaut bedeckt. Nur eines machte sein Leben erträglicher – die Zimmerleute zu beobachten.
An einer solchen Baustelle gab es für Zimmerer viel zu tun. Man brauchte Holzrampen, Leitern und Gerüste, und später würde man auch Balken und Holzböden herstellen. Wann immer Osric eine kleine Verschnaufpause einlegen konnte, drückte er sich bei den Zimmerern herum und beobachtete ihr Tun. In seiner Familie hatte es immer Handwerker gegeben, und so fühlte er sich instinktiv zu solchen Leuten hingezogen. Und die Zimmerer spürten wohl auch, daß er dafür empfänglich war, und zeigten ihm manchen Trick ihres Handwerks.
Er sehnte sich danach, mit den Zimmerern zu arbeiten. Diese Sehnsucht hatte ihn auch zu einem mutigen Schritt beflügelt. Dank eines freundlichen Zimmermanns hatte er drei Wochen lang mit Holzresten geübt, bevor er etwas produzierte, auf das er stolz war. Es war nur eine einfache Verbindung von zwei Holzstücken, doch sie war perfekt geplant und gearbeitet. Und dies hatte er nun in Ralph Silversleeves' Hände gelegt mit der Bitte: »Dürfte ich vielleicht den Zimmerern helfen, Sir?«
Ralph drehte das Holz nachdenklich hin und her. Mandeville würde zweifellos froh darüber sein, wenn dieser Leibeigene ein guter Handwerker werden würde. Der untersetzte kleine Kerl mit seinem großen Kopf und
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