London
Grund. Das Gegenstück der Burg in Colchester hatte einen halbkreisförmigen Vorsprung nach Osten. Der Architekt des Londoner Towers hatte bemerkt, wie gut dieser Vorsprung aussah, und beschlossen, dasselbe auch hier zu tun. »Dort wird die Apsis der königlichen Kapelle entstehen«, sagte Gundulf. »Es wird eine sehr edle Konstruktion werden.«
»Es wird die Arbeit um einige Wochen, wohl sogar um Monate verlängern! Und es stecken fünfundzwanzig Floßladungen Steine drin!« entgegnete Ralph erbost.
»Der König ist sehr darauf bedacht, daß die Arbeit rasch vonstatten geht«, erwiderte der Bischof höflich, jedoch bestimmt.
»Unmöglich«, grunzte Ralph. Er haßte es, von klugen Männern gemaßregelt zu werden.
Gundulf seufzte. »Ich bemerkte erst kürzlich dem König gegenüber, wie hervorragend Ihr Eure große Aufgabe meistert«, meinte er. »Und ich werde bald wieder mit dem König sprechen.«
Da selbst Ralph nicht umhinkonnte, die unterschwellige Drohung Gundulfs zu bemerken, zuckte er verdrossen die Schultern. »Wie Ihr wollt«, murmelte er.
»Ich werde dem König berichten«, meinte der Bischof abschließend, um dem widerspenstigen Kerl eins auszuwischen, »daß Ihr die neue Aufgabe in exakt dem Zeitraum bewältigen werdet, der vorgesehen war. Der König wird hocherfreut sein.«
Osric hatte den stattlichen Bischof schon früher ein paarmal gesehen, wenn Gundulf die Arbeiten inspizierte. Wie viele Leute in hohen Stellungen hatte sich auch der Bischof einen Mantel munterer Höflichkeit zugelegt. Wenn er auf der Baustelle herumspazierte, kostete ihn ein höfliches Nicken, selbst den Leibeigenen gegenüber, gar nichts.
Deshalb hatte sich der kleine Leibeigene, der so schwer in dem dunklen Tunnel schuften mußte, einen Plan zurechtgelegt. Sein ganzer Instinkt, ja sogar ein körperlich spürbares Sehnen in seinen Fingerspitzen ließen ihn wissen, daß er ein Handwerker sein sollte. Bischof Gundulf war ein Mann Gottes, und er wirkte freundlich. Sicherlich konnte selbst ein einfacher Leibeigener wie Osric sich einem Mann Gottes anvertrauen.
Er hatte schon lange auf einen günstigen Zeitpunkt gewartet. Eben hatte er seine Tunnelschicht beendet, da sah er den Bischof vor der Baustelle stehen und beschloß, die Gelegenheit zu ergreifen. Er flitzte zur Zimmererwerkstatt hinüber, holte sein Holzwerk und trat schüchtern vor den großen Mann.
Überrascht blickte Bischof Gundulf auf die ernste kleine Gestalt, die da, von oben bis unten mit Lehm beschmiert, vor ihm stand und ihm ein Holzstück entgegenstreckte. Freundlich fragte er: »Was willst du, mein Sohn?«
»Dies habe ich hergestellt«, erklärte Osric. »Ich will nämlich Zimmerer werden.«
Gundulf fiel es nicht schwer, den Rest der Geschichte zu erraten. Die Arbeit war gut, das sah er. Vielleicht sollte er den Jungen wirklich zu den Zimmerern schicken und herausfinden lassen, ob sie ihn gebrauchen konnten. Da hörte er einen Wutschrei hinter sich.
Es war Ralph. In dem Moment, in dem er die beiden gesehen hatte, war ihm klar gewesen, was Osric im Sinn hatte. Er war bereits zutiefst erzürnt über den veränderten Bauplan, da war der Anblick des verdammten kleinen Leibeigenen, der sich hinter seinem Rücken an Gundulf herangemacht hatte, mehr, als er ertragen konnte.
»Er sagt, daß er Zimmerer werden will«, stellte Gundulf milde fest.
»Niemals«, entgegnete Ralph. »Wir können ihm kein Messer oder sonstige scharfe Werkzeuge anvertrauen. Er arbeitet hier als Handlanger, weil er versucht hat, einen Ritter des Königs zu töten. Deshalb hat man ihm auch die Nase aufgeschlitzt. Er ist gefährlich!«
Gundulf seufzte. Er schenkte dem Aufseher keinen Glauben, aber andererseits hatte er ihm für heute genug Ärger verursacht. »Wie Ihr meint«, sagte er schulterzuckend.
Osric verstand nicht, was sie sagten, da sie sich in normannischem Französisch miteinander unterhielten, doch er spürte, daß die letzte Hoffnung seines jungen Lebens zerronnen war. Ralph zerrte ihn am Ohr zurück zum Tunneleingang. »Du glaubst also, daß du hinter meinem Rücken klammheimlich Zimmerer werden kannst?« kreischte er. »Dann sieh dich mal um! Diese Erde, diese Steine wirst du für den Rest deines Lebens herausbuddeln und wegkarren, kleiner Zimmerer, bis dir das Rückgrat bricht. Dieser Tower ist dein Leben, Osric, und ich werde dafür sorgen, daß du bis zu deinem Tod daran arbeitest!« Damit stieß er ihn in den Tunnel zurück und befahl ihm, eine weitere Schicht zu
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