London
faul. Er war groß und mit einer Plane bedeckt. Er schien eine schwere Ladung zu transportieren. Neben dem Wagenlenker saß eine mit einer Kapuze verhüllte Gestalt.
Ralph vergaß völlig, was Mandeville ihm aufgetragen hatte. Er ritt geradewegs zu diesem Karren hin und brüllte: »Bleibt stehen und zeigt Euch, Ihr Verräter!«
Die geheimnisvolle Gestalt streifte ihre Kapuze ab und bedachte ihn mit einem verächtlichen Blick. Es war Hilda. »Idiot!« schrie sie, so daß alle es hören konnten. »Henri hat immer gesagt, daß du ein Dummkopf bist.« Dann schlug sie die Plane zurück, so daß alle die harmlose Ladung sehen konnten. »Wein«, rief sie laut. »Ein Geschenk deines Bruders an deinen Vater. Ich bringe ihn nach Hatefield.« Und sie holte mit der Peitsche aus, als wolle sie ihm einen Hieb ins Gesicht versetzen, und zwar so überzeugend, daß Ralph hastig zurückwich.
Die Männer lachten. Gedemütigt und wütend schrie Ralph sie an, ihm zu folgen, und ohne einen Blick zurück ritt er rasch Richtung London davon.
Fünf Wochen später erlaubte es sich Barnikel, neben der Kirche St. Bride, wo sie ganz allein zu sein schienen, einen züchtigen Kuß auf die Stirn seiner neuen Mitverschwörerin zu drücken. Danach machten sie sich zufrieden auf ihren Spaziergang am Flußufer. Keiner der beiden merkte, daß sie heimlich verfolgt wurden.
1081
Alfred war inzwischen der Meister der Waffenschmiede. Die weiße Haarsträhne in seiner Stirn fiel kaum mehr auf, weil sein übriges Haar ergraut war. Er war ein stattlicher Mann, der seine Lehrlinge mit autoritätsgebietender Stimme anleitete und auch bei seiner Frau und seinen Kindern das Heft fest in der Hand hatte.
Nie vergaß er den Tag, an dem Barnikel ihn halb verhungert, am London Stone kauernd, gefunden hatte, und deshalb tat er alles, was in seinen Kräften stand, um seinem Freund Osric zu helfen; er wollte das Gute, das ihm widerfahren war, auch an andere weitergeben. Seine Familie sorgte dafür, daß Osric mindestens einmal pro Woche eine anständige Mahlzeit bekam, und Alfred hatte sogar mehrmals angeboten, ihm seine Freiheit zu erkaufen. Aber Ralph hatte sich immer dagegengestellt.
Ralphs Haß auf den Leibeigenen hatte sich inzwischen zu einer Gewohnheit gefestigt. Osric war ein lebendiges Ding, dem er weh tun konnte, wann immer er wollte. Nichts verschaffte ihm größeres Vergnügen, als Osrics Freiheitsbestrebungen zu vereiteln. »Keine Sorge«, versprach er ihm zynisch, »ich werde dich nie gehen lassen.«
Mit zwanzig lernte Osric Dorkes kennen. Das kleine, zierliche Mädchen war sechzehn. Sein langes, dunkles Haar war in der Mitte gescheitelt, das Gesicht war blaß bis auf die roten Lippen, was darauf hinwies, daß die Vorfahren wohl Kelten, vielleicht auch Römer waren.
Osric erzählte niemandem von dem Mädchen. Die Arbeiter hausten in ein paar Holzhütten neben der alten Römermauer unten am Flußufer. Manche, wie Osric, konnten nichts ihr eigen nennen bis auf den Strohsack, auf dem sie schliefen. Andere, die Frauen gefunden hatten, errichteten sich aus Holzabfällen und Strohballen einen kleinen privaten Raum, so daß in manchen Ecken ganze Familien hausten. Manche der Arbeiter waren Leibeigene; sie waren von ihren Herren, die dem König einen Dienst schuldeten, hierhergeschickt worden. Einige von ihnen wiesen wie Osric Verstümmelungen auf, die darauf schließen ließen, daß sie sich irgendeines Vergehens schuldig gemacht hatten. Es herrschte wenig Disziplin unter den Arbeitern. Ralph kümmerte sich kaum darum, was zwischen ihnen vorging, solange sie nur arbeiteten.
Dorkes' Vater war Koch gewesen, und zu seinen Lebzeiten hatten sie stets gut gegessen. Doch vor zwei Jahren war er gestorben, und von da an war ihr Leben schwer geworden. Die Mutter, die Gelegenheitsarbeiten verrichtete, war kränklich, ihre Hände von Gicht geschwollen. Das Mädchen tat, was es konnte, um ihr das Leben zu erleichtern.
Dorkes war Osric zum erstenmal im Dezember aufgefallen. Die Arbeiter mußten zwar bei jedem Wetter am Tower schuften, doch dieser Winter war besonders hart, und zwei Wochen vor Weihnachten kam plötzlich der Befehl, die Arbeit einzustellen. »Wenn es so kalt ist«, erklärte der Vorarbeiter, »gefriert der feuchte Mörtel und bekommt Sprünge.« Am nächsten Tag wurden viele Leibeigene in ihre Dörfer heimgeschickt, während die Zurückgebliebenen den Auftrag erhielten, die Mauern vor dem Frost zu schützen – eine ziemlich stinkende Arbeit, denn das
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