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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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gar nicht, was sie denken oder sagen sollte. Endlich sagte sie nur: »Danke!«
    Ein paar Tage später sah Osric verwundert, wie sich ihm im weichen Lichtschein des Kohlenbeckens eine kleine, blasse Gestalt näherte.
    Ein Jahr verstrich, bevor Dorkes' Mutter in das Haus des Waffenschmieds aufgenommen wurde. In dieser Zeit wurde das Hauptgeschoß des Towers fertiggestellt, und die riesigen Eichenbalken für die Decke wurden vorbereitet. Osric und Dorkes hatten sich im Schlafquartier soviel Privatraum wie möglich geschaffen und lebten nun dort zusammen. Es hatte keine Hochzeitszeremonie, keine offizielle Anerkennung ihrer Verbindung gegeben; bei den Mitbewohnern galt Dorkes einfach als die Frau des jungen Osric und er als ihr Mann, und kurz nachdem die Mutter weggezogen war, eröffnete Dorkes Osric, daß sie schwanger war.
    Alfred fand, daß er und seine Frau etwas Gutes getan hatten und daß das Leben im normannischen London alles in allem durchaus erträglich war. Oder hätte sein können. Denn es gab ein quälendes Problem, das sie alle zu verschlingen drohte, wenn es ihm nicht gelang, eine Lösung dafür zu finden.
    An einem späten Augustmorgen im Jahr des Herrn 1083 stand Leofric der Händler vor seinem Haus und starrte auf zwei Dinge, die seine Aufmerksamkeit so fesselten, daß er seinen Blick ständig zwischen ihnen hin- und herwandern ließ.
    Das erste war die zur Hälfte fertiggestellte Kirche. Der Eroberer hatte nicht nur Burgen in England eingeführt, sondern auch kontinentale Kirchen. Schließlich hatte er ja dem Papst versprochen, im Gegenzug für seinen Segen die englische Kirche zu reformieren. Er hatte den sächsischen Erzbischof von Canterbury abgesetzt und an seiner Stelle Lanfranc, einen normannischen Priester von bestem Ruf, eingesetzt. Lanfranc machte sich sogleich daran, in seiner neuen Gemeinde aufzuräumen.
    Vor einigen Jahren hatte es am West Cheap gebrannt. Leofrics Haus war von den Flammen verschont geblieben, aber die kleine sächsische Kirche St. Mary am oberen Ende des Wegs war völlig abgebrannt. Nun hatte Erzbischof Lanfranc befohlen, sie wieder aufzubauen, und zwar als seine persönliche Kirche in London. Auf dem halben Weg zum Cheap hinter den Buden der Seidenhändler, Stoff- und Schleifenverkäufer entstand nun eine kleine, hübsche Kirche, einfach, stabil und aus Stein. Die Krypta war bereits fertig. Sie hatte ein Hauptschiff und zwei Seitenschiffe. Das Auffälligste an diesem Bau, das die Londoner sehr beeindruckte, waren die stabilen Bögen dieser kleinen Kirche in dem imposanten normannischen Stil, wie sie bereits in der Westminsterabtei zu finden waren; aufgrund dieser Bögen hatte die Kirche bereits einen Namen, den sie für immer behalten sollte: St. Mary-leBow.
    Kaum ein Tag verstrich, ohne daß Leofric den Fortschritt an diesem schönen neuen Bauwerk beobachtete. Es mochte zwar ein normannischer Bau sein, der sich da gleich vor seiner Türschwelle erhob, doch er gefiel ihm.
    Der andere Anblick, der Leofric heute fesselte, wurde von Augenblick zu Augenblick merkwürdiger. An der Nordseite des Cheap befand sich eine schmale Gasse, die Ironmonger Lane. An dieser Ecke drückte sich nun schon seit geraumer Zeit eine seltsame Gestalt herum. Der Mann hatte sich seine Kapuze tief ins Gesicht gezogen und die Schultern eingezogen in dem vergeblichen Versuch, seine Größe und wahrscheinlich auch seine Identität zu verbergen. Unter der Kapuze lugte das Ende eines großen, roten Bartes hervor. Was hatte er dort zu suchen? An der Ironmonger Lane lag ein neues Quartier, das unter dem Namen seiner jüngsten Bewohner bekannt war, der Juden.
    Wilhelm hatte nicht nur seine Ritter nach England mitgebracht, sondern auch die normannischen Juden. Sie genossen den besonderen Schutz des Königs und hatten sich darauf spezialisiert, Kredite zu gewähren, denn die meisten anderen Berufe blieben ihnen verwehrt. Natürlich waren die Kaufleute von London vertraut mit den Grundzügen der Geldwirtschaft. Kredite und ihre Begleiter, die Zinsen, hatte es auch in London schon lange gegeben. Leofric, Barnikel und Silversleeves hatten alle schon einmal Kredite aufgenommen und sich zu Zinsen oder einem Äquivalent verpflichtet. Doch diese Spezialistengemeinschaft war etwas Neues in der angeldänischen Stadt.
    Warum also trieb sich Barnikel dort herum? Nicht nur seine Kleidung, auch sein Verhalten war wirklich sonderbar. Erst ging er ein paar Schritte die Gasse hinauf, dann hielt er inne, drehte sich um,

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