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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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werfen, doch statt dessen hub ein schallendes Gelächter an. »Unser kleiner Künstler ist ja ein richtiger Kämpfer! Osric, wir wußten gar nicht, daß sie dein Mädchen ist.« Von diesem Tag an pflegte der Witz die Runde zu machen: »Wie geht's deinem Mädchen, Osric?«
    Nach diesem Vorfall sah er Dorkes mit anderen Augen. Manchmal beobachtete er sie, wenn sie frühmorgens zum Fluß hinabging, um sich zu waschen. Da es inzwischen sommerlich warm war, trug sie nur ein dünnes Gewand, wenn sie in den Fluß stieg, so daß Osric die Formen ihres Körpers ziemlich gut erkennen konnte, wenn sie wieder herauskam. Sie hatte kleine, wohlgeformte Brüste.
    Abends, wenn sie mit ihrer Mutter am Feuer saß, setzte er sich gern in ihre Nähe und betrachtete ihr Gesicht. Was ihm anfangs nur blaß und unauffällig vorgekommen war, wurde plötzlich wunderschön. Und noch etwas anderes sah er bei diesen Gelegenheiten. Sie mochte vielleicht ängstlich sein, doch für ihre Mutter trat sie stets mit stiller Entschlossenheit ein. Dorkes erledigte kleinere Dienste für diverse Leute, wofür sie mit Lebensmitteln bezahlt wurde, und rettete damit sich und die Mutter vor dem Verhungern.
    Seit er sie verteidigt hatte, war sie stets freundlich zu ihm. Oft plauderten sie ein wenig oder machten einen kleinen Spaziergang. Dorkes wußte, daß die Männer ihn wegen ihr aufzogen, doch es schien ihr nichts auszumachen. Eines Abends im Juli beobachtete er sie wieder einmal, und plötzlich überkam ihn eine Welle von beschützender Zuneigung. Von diesem Tag an dachte er, sein ganzes Leben würde einen neuen Sinn bekommen, wenn er nur mit ihr zusammenleben könnte. Dieser Gedanke war so aufregend, daß selbst die elenden Hütten, in denen sie hausten, ihm in einem neuen, warmen Licht erschienen.
    Doch dann sah Ralph Silversleeves die beiden einmal zusammen. Er pflegte frühmorgens die Baustelle abzulaufen, bevor die Arbeiten begannen. Er traf die zwei jungen Menschen, die gerade vom Fluß heraufkamen. Ralph hatte die Männer Witze über Osric und das Mädchen machen hören, doch er hatte es stets höchst unwahrscheinlich gefunden, daß ein Mädchen ein Auge auf Osric werfen könnte. Als er die beiden nun so sah, fragte er sich, ob es tatsächlich stimmte, daß dieser elende Osric ein Mädchen hatte, wo er, Ralph, keines hatte. Von Eifersucht überwältigt sagte er: »Warum läßt du dieses hübsche Mädchen nicht in Ruhe, Osric? Du bist so häßlich, daß sie sich ja richtig schämen muß mit dir!« Damit ging er davon.
    »Ich ignoriere ihn immer!« flüsterte Dorkes.
    Doch Osric trafen die Worte des Normannen so schwer, daß er gar nichts mehr sagen konnte. Wenn sie mich nur lieben könnte! dachte er. Er würde sie beschützen. Er würde sein Leben für sie geben. Mit solchen Gedanken verstrichen die nächsten drei Wochen.
    Die Maurer arbeiteten inzwischen an der zukünftigen Krypta der Kapelle. Es war ein etwa fünfzehn Meter langer Raum, der in die östliche Apsis hineinragte. Sie hatten bereits angefangen, das Gewölbe zu bauen. Osric sah gerne dabei zu. Zuerst errichteten die Zimmerer große, halbkreisförmige Holzbögen, die auf Gerüste aufgestellt wurden, so daß sie wie eine Reihe von Buckelbrücken aussahen. Dann kletterten die Steinmetzen hoch und verlegten die keilförmig zugehauenen Steine. Das breite Ende kam nach oben, so daß jeder Bogen in sich stabil war.
    Eines Morgens grummelten die Steinmetzen über eine weitere verfluchte Änderung. Die Wand zwischen der Krypta und der Kammer auf der Ostseite des Towers war fast vier Meter dick. Nachdem die Steinmetzen einen schmalen Eingang von der Krypta aus in diese Mauer geschnitten hatten, sollten Osric und drei Männer nun eine Kammer aushöhlen, indem sie die Kieselfüllung herauskratzten. Die Zimmerer stützten das Ganze mit Balken ab, und so gruben die vier tagelang, bis sie eine verborgene Kammer von etwa drei Metern Durchmesser geschaffen hatten.
    »Dies hier wird die Schatzkammer«, erklärte Ralph den Arbeitern. Der Raum sollte mit einer starken Eichentür versehen werden.
    An einem trüben Sonntagmorgen im Herbst gestand Osric Dorkes seine Liebe. An der alten Römermauer neben dem Tower gab es Stufen, die zu den Zinnen hinaufführten, und die beiden waren dort hinaufgeklettert, um den Ausblick zu genießen. Plötzlich überkam Osric eine derart heftige Sehnsucht nach ihrer kleinen, blassen Gestalt, daß er sanft einen Arm um ihre Taille legte. Doch Dorkes entzog sich ihm. »Bitte,

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