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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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laß das!«
    »Ich dachte, vielleicht…«, stammelte er.
    Sie schüttelte den Kopf. »Osric, du bist immer sehr nett zu mir, aber… ich liebe dich nicht.«
    Er nickte. In seinem Hals stieg bittere Verzweiflung auf. »Ist es wegen…?« Wegen meines Gesichts, wollte er sagen, brachte den Satz jedoch nicht zu Ende.
    »Geh bitte«, sagte sie nur.
    Osric hatte verstanden. Er schleppte sich in seine Hütte und sank auf seinen Strohsack, wo er lange sitzen blieb und leise weinte.
    Doch Dorkes hatte ein ganz anderes Problem. Sie hatte zwar sein verstümmeltes Gesicht bemerkt, doch sie dachte kaum daran. Sie bewunderte seinen Mut und mochte seine nette Art. Aber was nützte dies schon? Selbst der ärmste Leibeigene in einem Dorf hatte eine Hütte, in der er lebte, und ein Stück Land, das er bearbeitete. Osric hatte nur einen Strohsack, auf dem er schlief. Was würde ihm sein Leben bringen? Er würde weiterhin Steine für Ralph Silversleeves schleppen müssen, der ihn haßte. Und was hatte sie vorzuweisen? Eine kranke Mutter, um die sie sich kümmern mußte. Wie sollte sie das anstellen, wenn sie einen Mann hatte? Osric konnte sich nicht um sie kümmern. Und außerdem hatte sie genug mitbekommen von den Paarungen, die hier in den Hütten stattfanden, von den zerlumpten, halbverhungerten Kindern, die im Heu und draußen im Dreck herumkrabbelten. »Sie leben doch wie Ungeziefer!« hatte ihre Mutter einmal gesagt. Deshalb war sie vorsichtig mit Osric, sehr darauf bedacht, nett zu ihm zu sein, ohne allzuviel Hoffnung in ihm zu erwecken. An diesem Morgen hatte sie das getan, was sie tun mußte – sie hatte ihn abgewiesen. Nun starrte sie auf die starken, stetig wachsenden Mauern des Towers und verfluchte das Schicksal, das sie in dieses grimmige Gefängnis gesteckt hatte.
    Vor allem durfte Osric nie ihr Geheimnis erraten – daß sie ihn liebte.
    Von diesem Tag an lächelten sich Osric und Dorkes zwar weiterhin an, wenn sie sich begegneten, sprachen jedoch kaum mehr miteinander. Beide behielten ihre Gefühle für sich.
    Alfreds Frau war die erste, die die Veränderung an Osric bemerkte. Normalerweise ging es bei seinen wöchentlichen Mahlzeiten mit dem Waffenschmied und seiner Familie recht lustig zu. Alfred hatte sich neben der Waffenschmiede ein neues Haus gebaut, das aus einem großen Hauptraum mit einem Dachgeschoß bestand, in dem es einen Raum für ihn und seine Frau und einen zweiten für die sechs Kinder gab. Die Lehrlinge schliefen in einem Nebengebäude im Hinterhof.
    Alfreds Frau hatte ein heiteres, gemütliches Wesen. Sie war die Tochter eines Metzgers und leitete ihren lebhaften Haushalt mit der Zuversicht einer Frau, die einen liebevollen Ehemann und die Kinder hat, die sie sich immer gewünscht hat. Osric kam meist recht vergnügt im Haus an, oft brachte er ein kleines Spielzeug mit, das er geschnitzt hatte, um den Kindern eine Freude zu machen.
    Gegen Ende des Sommers fiel Alfreds Frau auf, daß Osric sehr abwesend wirkte und kaum etwas aß. Als er dann im Herbst leichenblaß zu ihnen kam, kaum ein Wort sagte und kaum einen Bissen herunterbrachte, begann sie sich ernstlich Sorgen zu machen. Sie versuchte immer wieder vergeblich, etwas aus ihm herauszubekommen. »Was auch immer es ist«, sagte sie zu Alfred, »es muß etwas Schlimmes sein. Frag doch mal beim Tower nach! Versuche herauszufinden, was passiert ist!«
    Ein paar Tage darauf lieferte Alfred ihr den gewünschten Bericht. »Man erzählt sich, daß es da ein Mädchen gibt, mit dem er sich angefreundet hat. Ein recht hübsches Ding. Ich habe mich sogar mit ihr unterhalten, und sie hat mir gesagt, daß sie einfach nur befreundet seien.«
    Seine Frau schüttelte den Kopf. »Ich rede wohl besser mal selbst mit dem Mädchen«, meinte sie.
    Um so überraschter war sie über Osrics Verhalten, als er am nächsten Abend zum Essen zu ihnen kam. Irgend etwas, irgendein Geheimnis schien ihn in Aufregung versetzt zu haben. Niemand hatte ihn jemals so viel essen sehen wie an diesem Abend. Er aß doppelt so viel wie die heißhungrigen Lehrlinge. »Willst du dich für etwas Besonderes stärken?« fragte Alfred ihn.
    »Ja, ich brauche heute abend soviel Essen, wie ich in mich reinbekommen kann«, erwiderte Osric, verschwieg jedoch den Grund dafür. Zufrieden verabschiedete er sich schließlich und lag dann noch eine ganze Weile lächelnd auf seinem Strohsack, während er über seinen Plan nachdachte.
    Am nächsten Morgen war das Flußufer nebelverhangen, als Ralph seine

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