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London

London

Titel: London Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Edward Rutherfurd
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übliche Runde drehte. Er grunzte mißmutig. Zwar hatte er am Vorabend den Damen am Südufer einen Besuch abgestattet, doch abgesehen von der rein körperlichen Entspannung verschafften ihm diese Besuche zunehmend weniger Befriedigung, und so war er ziemlich schlechtgelaunt im Morgengrauen über die Brücke zurückgegangen. Und noch etwas störte ihn: Wo war seine Peitsche abgeblieben? Sie war vor zwei Tagen auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Er hatte sie nur kurz abgelegt, und obwohl er schreckliche Drohungen ausgestoßen hatte, schien keiner der Arbeiter am Tower etwas von ihr zu wissen. Er hatte sich so an das Gefühl gewöhnt, sie in der Hand zu halten, daß er sich ohne sie unwohl fühlte.
    Er machte sich nicht die Mühe, das Schlafquartier zu besuchen, sondern stolzierte wie üblich nur um den düsteren Tower herum. Da sah er plötzlich seine Peitsche. Sie lag neben der Wand auf dem Boden. Wahrscheinlich hatte der Dieb Angst bekommen und wollte sie ihm auf diese Weise zurückgeben. Er ging zu der Stelle, an der sie lag, und bückte sich, um sie aufzuheben.
    Osric hatte fast eine ganze Stunde gewartet. Er wußte, daß sein Plan gefährlich war, aber er hatte eigentlich nichts zu verlieren. Dorkes wollte ihn nicht haben. Die Zukunft barg nichts mehr für ihn, auf das er sich freuen konnte. Konnte er sich da nicht wenigstens die – wenn auch noch so kleine – Befriedigung gönnen, dem Aufseher, der ihn immer wieder so schikanierte, einen Streich zu spielen? So kauerte er nun auf seinem Aussichtspunkt und kalkulierte sorgfältigst den Moment, in dem der Aufseher seine verdiente Abreibung bekommen sollte.
    Osrics Bemühungen am Abend zuvor waren nicht vergeblich gewesen. Er hatte sich den Bauch so vollgeschlagen, daß er schon Angst gehabt hatte, er würde platzen. Die weiche, warme Ausscheidung, die er nun von sich gab und die auf der Nordseite des Towers von der Latrine herabglitt, auf der er kauerte, war mit Sicherheit bei weitem umfangreicher als alles, was er bisher produziert hatte. Und da sie so lange festgehalten worden war, gelangte sie nun in wunderbarer Dichte nach draußen – weich, voll, an einem Stück glitt sie auf ihr Ziel zu. Osric spähte durch das Rohr hindurch und sah zu seiner großen Freude, daß seine Fracht genau auf dem Kopf des Aufsehers gelandet war.
    Von unten kam ein Schreckensschrei, und dann, als Ralph mit der Hand nachgefühlt hatte und sah und roch, was sich daran befand, ein Schrei des Entsetzens. Doch als er schließlich in die Öffnung über ihm hinaufspähte, war der Übeltäter längst verschwunden.
    Wutschnaubend stürmte der Normanne um das Gebäude herum und die Treppe hinauf. Er raste zur Latrine, dann von der Halle in die Kammer, in die Krypta, selbst in die dunkle Schatzkammer. Er fand nichts. Er wollte die Suche fortsetzen, doch da kam ihm ein schrecklicher Gedanke. Bald würden die ersten Steinmetzen im Tower eintreffen und ihn in diesem Zustand sehen, stinkend und mit Exkrementen verschmiert. Er würde zum Gespött des ganzen Towers, ja, von ganz London werden. Mit einem Schrei der Verzweiflung floh er aus dem Gebäude und verschwand im Morgennebel in Richtung Stadt.
    Osric wartete. Er war in den großen Kamin hineingeklettert und saß dort nun gute drei Meter hoch mit gespreizten Beinen in der Dunkelheit des Rauchabzugs. Er hörte Ralphs Schreie und lächelte zufrieden. Nachdem Ralphs Schritte sich entfernt hatten, wartete er noch ein Weilchen, dann kletterte er wieder herunter.
    Ein paar Tage später wurde Dorkes zu ihrer Überraschung von der Frau des Waffenschmieds angesprochen. Anfangs, als sie gemeinsam Richtung Billingsgate liefen, war das Mädchen noch sehr zurückhaltend, doch allmählich ließ es sich von der Wärme und dem Verständnis der älteren Frau einnehmen und öffnete sich ihr ein wenig, bis es ihr schließlich alles gestand.
    Ruhig und freundlich erklärte die Frau, daß sie und ihr Mann Freunde von Osric seien, daß Alfred schon mehrmals versucht hatte, Osric aus der Leibeigenschaft freizukaufen. Dann machte sie ein Angebot: »Wir sorgen für deine Mutter. Wenn Ralph nichts dagegen hat, nehmen wir sie in unser Haus auf.«
    »Aber…« Das Mädchen zögerte. »Wenn ich Kinder habe und wenn Osric…«
    »Wenn Osric etwas passiert? Dann sorgen wir auch für die Kinder, wir lassen sie schon nicht verhungern.« Alfreds Frau lächelte. »Mein Mann ist ein Meisterschmied. Er genießt hier ein ziemlich hohes Ansehen.«
    Auf dem Rückweg wußte Dorkes

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