Londons Albtraum-Nächte
seine Stirn und war mehr als froh über die Ruhe im Haus. An den Wochentagen hätte er dies nicht erlebt. Da gab es stets einen wilden Trubel.
Er hatte die Ratten in der letzten Zeit nicht mehr gesehen und überlegte natürlich, wo sie sich hätten verstecken können. In den Wohnungen hoffentlich nicht. Die Türen waren allesamt geschlossen, und so schnell nagte sich keine Ratte durch.
Die Lampe brauchte er eigentlich nicht mehr. Dennoch ließ er sie eingeschaltet. Der Lichtkreis hüpfte neben ihm her. Er sah bereits seine Wohnungstür und nahm auch die nach oben führende Treppe zu den nächsten Etagen wahr, als er zufällig wieder einen Blick über die Stufen warf.
Da sah er sie!
Zunächst blieb Brixon starr stehen. Er hatte das Gefühl, innerlich zu vereisen. Die Ratten hatten sich auf den Stufen verteilt. Sie hockten dort wie künstliche Geschöpfe, denn im Moment bewegte sich keine von ihnen.
Er nahm das Bild auf, doch er wollte es kaum glauben. Es kam ihm vor wie eine Plastik, die irgendein Künstler erschaffen hatte. Die Tiere hatten die Stufen bis auf eine hinter sich gelassen und hockten auf dem Podest in der ersten Etage. Zwei Wohnungen lagen dort. Kleine Buden. Er wusste, dass in einer Linda Perth lebte, eine junge Frau, die am Theater arbeitete, und in der zweiten ein älteres Ehepaar, das Tag und Nacht vor der Flimmerkiste hockte.
Die Ratten saßen so, dass sie gegen die Tür von Linda Perths Wohnung schauen konnten. Keine hatte sich gedreht, um die Treppe nach unten zu blicken. Die Tür der Wohnung schien für sie wirklich interessant zu sein, was Brixon im Moment nicht begreifen konnte. Er hatte es noch nicht gewagt, die Lampe anzuheben. Neben ihm malte sich der helle Kreis auf dem Boden ab, der ebenso zitterte wie seine Hand.
Warum hockten die Ratten vor der Tür? Warum warteten sie dort wie bestellt und nicht abgeholt?
Diese Fragen schossen ihm durch den Kopf. Antworten konnte er sich nicht geben. Das Leben hatte sich für ihn in der letzten Viertelstunde auf den Kopf gestellt. Er fand sich nicht zurecht, und er wusste nicht, wie er sich verhalten sollte.
Es vergingen nur Sekunden. Die Zeit allerdings kam ihm minutenlang vor. Sein Herz schlug immer schneller. Er bekam nur schwer Luft. Plötzlich war ihm klar, dass die Ratten etwas vorhatten. Sie waren nicht nur einfach so erschienen, um sich im Haus zu verteilen. Es steckte schon mehr dahinter.
Nur langsam löste sich die Starre. Ein tiefer Atemzug, dann war er bereit. Er hob den rechten Arm an. Die Lichtlanze wanderte die Stufen hoch und wurde an den Kanten geknickt, aber sie erreichte auch die Ratten.
Brixon rechnete damit, dass sich die Tiere zuerst erschreckten und sich dann die Treppe hinabstürzen würden, um ihn anzuspringen. Er hatte Glück, dass es nicht passierte.
Die Tiere blieben auf dem Podest sitzen und taten erst mal nichts. Nur die Köpfe hielten sie gedreht, weil sie über die Stufen hinweg in seine Richtung schauten. Er glaubte sogar, Hass in ihren kleinen Glitzeraugen zu lesen.
»Verdammtes Rattenpack!«, flüsterte er. »Verfluchtes Gezücht! Ich werde euch killen. Ich werde euch...«
Die Ratten störte das nicht. Sie bewegten sich plötzlich, und Brixon wurden die nächsten Wirte von den Lippen gerissen, denn was er sah, war unglaublich.
Die Tiere hatten ein Ziel. Sie hatten auf dem Weg dorthin nur eine kurze Pause eingelegt. Er hatte damit gerechnet, dass sie nach unten stürmen wollten, um ihn anzuspringen. Aber die Tür, vor der sie standen, war plötzlich wichtiger.
Und sie war nicht geschlossen.
Was Tom Brixon in den folgenden Sekunden erlebte, das konnte er unmöglich nachvollziehen. Es war einfach nur verrückt. Das verdammte Rattenpack schaffte es tatsächlich, in die Wohnung einer gewissen Linda Perth einzudringen, denn die Tür dazu war nicht geschlossen. Irgendjemand musste sie aufgezogen und dann aufgelassen haben, so dass ein genügend großer Spalt zurückgeblieben war.
Durch ihn verschwanden sie. Die Ratten huschten hinein. Sie waren flink, sie waren auch hektisch. In der Stille hörte er das Trappeln ihrer Füße, und es kam ihm vor, als hätte die Stille sogar noch zugenommen. Als hätten sich die übrigen Bewohner des Hauses einfach zurückgezogen, um sich nie mehr blicken zu lassen.
Der Reihe nach huschten die Ratten durch den Türspalt, den er nicht sehen konnte. Als der letzte Rattenschwanz in der Wohnung verschwunden war, atmete Tom Brixon tief durch, aber nicht auf. Ihm wurde schwindlig.
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