Long Dark Night
hatte keine Feinde.«
»Also muß es ein Einbrecher gewesen sein, was?« fragte Hawes.
Priscilla musterte ihn, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Betrachtete ihn von oben bis unten. Rotes Haar mit einer weißen Strähne. Und Brüste wie Kleinkindersärge.
»Das ist Ihr Job, nicht wahr?« fragte sie eiskalt. »Zu entscheiden, ob es ein Einbruch war oder nicht?«
»Außerdem hatte sie eine Freundin«, berichtigte Carella sie.
»Ach was?«
»Eine Frau, die gegenüber wohnt. Sie hat ihr ihre alten Platten vorgespielt.«
»Also bitte. Sie hat diese alten Platten jedem vorgespielt, den sie beschwatzen konnte, sie sich anzuhören.«
»Sind Sie ihr mal begegnet?«
»Wem?«
»Einer Frau namens Karen Todd.«
»Nein.«
»Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?« fragte Hawes.
»Wir sind nicht besonders gut miteinander ausgekommen.«
»Das haben wir schon kapiert. Wann haben Sie sie zum letztenmal gesehen?«
»Muß gegen Ostern gewesen sein.«
»Schon eine Weile her.«
»Ja«, sagte sie und verstummte dann plötzlich. »Ich muß wohl meine Mutter anrufen, was?«
»Das wäre vielleicht eine gute Idee«, sagte Carella.
»Ihr erklären, was passiert ist.«
»Hmm.«
»Wie spät ist es jetzt in London?«
»Keine Ahnung«, sagte Carella. »Fünf oder sechs Stunden früher, oder?« Hawes schüttelte den Kopf und zuckte mit den Achseln.
Priscilla verstummte wieder.
Das Sektglas war mittlerweile leer.
»Warum haben Sie sie gehaßt?« fragte Carella.
»Weil sie sich das selbst angetan hat.«
»Sie konnte nichts für die Arthritis«, sagte Hawes.
»Sie konnte was für den Alkoholismus.«
»Was kam zuerst?«
»Wer weiß? Wen interessiert das? Sie war eine der ganz Großen. Sie endete als Niemand.«
»Feinde?« fragte Carella noch einmal. »Ich weiß von keinen.«
»Also muß es ein Einbrecher gewesen sein?« wiederholte Hawes.
»Wen interessiert das?« fragte Priscilla. »Uns«, sagte Carella.
Es war an der Zeit, die Uhr anzuhalten.
Die Zeit lief viel zu schnell, irgend jemand da draußen hatte die alte Frau umgebracht, und die Zeit war auf seiner oder ihrer Seite - auf welcher Seite auch immer. Je schneller die Minuten vergingen, desto größer wurde die Entfernung zwischen ihm oder ihr - oder wem auch immer - und den Cops. Also war es an der Zeit, einen Augenblick lang innezuhalten und nachzudenken, an der Zeit, sich ans Telefon zu hängen, an der Zeit, durchzuatmen.
Carella rief zu Hause an.
Als er gestern abend um elf Uhr losgefahren war, hatte sein Sohn Mark fast vierzig Grad Fieber gehabt. Er hatte den Arzt angerufen, aber er war noch nicht eingetroffen. Fanny Knowles, die Haushälterin der Carellas, hob nach dem dritten Klingelton ab.
»Fanny«, sagte er. »Hallo. Habe ich Sie geweckt?«
»Augenblick, ich hole sie«, sagte Fanny.
Er wartete. Seine Frau konnte weder sprechen noch hören. Sie hatte ein eigens für Taubstumme entwickeltes Telefon im Haus, aber es war zeitraubend, langwierig und oftmals frustrierend, längere Mitteilungen einzutippen. Da war es schon besser, daß Teddy sich der Zeichensprache bediente und Fanny übersetzte. Er wartete.
»Okay«, sagte Fanny endlich.
»Was hat der Arzt gesagt?«
»Es ist nichts Ernstes«, sagte Fanny. »Er glaubt, es sei die Grippe.«
»Was meint Teddy?«
»Ich frag sie mal.«
Eine Weile herrschte Stille in der Leitung. Er stellte sich die beiden Frauen in ihren Nachthemden vor.
Fanny machte Zeichen, Teddy antwortete. Fanny war etwa einsfünfundsechzig groß, eine stämmige Frau irischer Abstammung mit rotem Haar und einer Brille mit Goldrand. Ihre Finger flogen in der Sprache, die Teddy sie gelehrt hatte. Teddy war fünf Zentimeter größer, eine wunderschöne Frau mit kohlrabenschwarzem Haar und lehmbraunen Augen. Ihre Finger flogen noch schneller, denn sie war schon von Kind an daran gewöhnt.
Fanny meldete sich wieder. »Sie sagt, die größten Sorgen hätte sie sich gemacht, als er wie Espenlaub zu zittern anfing. Aber jetzt geht’s ihm wieder besser. Das Fieber ist gesunken, sie glaubt, der Arzt hat recht, es ist nur die Grippe. Sie schläft aber in seinem Zimmer, nur für alle Fälle. Sie will wissen, wann Sie nach Hause kommen.«
»Schichtende ist um acht, das weiß sie doch.«
»Sie dachte, wo der Junge doch krank ist und so…«
»Fanny, wir haben einen Mordfall. Sagen Sie ihr das.«
Er wartete.
»Sie meint, Sie hätten immer einen Mordfall«, sagte Fanny schließlich. Carella lächelte.
»Ich bin in sechs
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