Long Dark Night
Verstorbenen gilt.«
»Ich kann Ihnen nicht ganz folgen«, sagte Hawes.
»Die Enkelin. Sie ist Priscilla Stetson. Die Sängerin.«
»Ach? Was macht sie denn so?«
»Singt in Nachtclubs. Bars. Cabarets. Und so weiter.«
»Sie wissen nicht zufällig, wo sie singt, oder?« fragte Hawes.
In dieser Stadt leben viele Obdachlose, die tagsüber schlafen und nachts herumziehen. Die Nacht ist gefährlich für sie. Draußen lauern Raubtiere, und ein Heim aus Pappkartons bietet nur spärlichen Schutz vor Raub oder Vergewaltigung. Also wandern sie wie Gespenster durch die Straßen und verleihen der Nacht etwas Unheimliches.
Die Straßenlaternen verbreiten ihr fahles Licht, und Ampeln schalten periodisch von Grün auf Gelb und Rot, doch trotzdem kommt einem die Stadt dunkel vor. Hier und da eine einsame Badezimmerlampe. In ansonsten dunklen Wohnhäusern brennen vereinzelte Lampen in den Schlafzimmern der Schlaflosen. Die Bürogebäude sind hell erleuchtet, doch halten sich hier jetzt nur noch die Putzkolonnen auf, die die Schreibtische für den nächsten Arbeitstag in Schuß bringen, der am Montagmorgen um neun Uhr beginnt. An diesem Abend - es kommt einem noch immer wie Abend vor, obwohl der Morgen genaugenommen schon anderthalb Stunden alt ist - sind die Stahltaue der Brücken, die die Flüsse der Stadt überspannen, mit hellen Lichtern geschmückt, die sich im schwarzen Wasser unter ihnen spiegeln. Und doch kommt einem alles fürchterlich dunkel vor, vielleicht, weil die Nacht so leer ist.
Um halb zwei morgens sind die Theaterbesucher schon lange zu Hause und im Bett, und die meisten Hotelbars haben schon seit einer Stunde geschlossen. Die Nachtclubs und Discos werden noch bis vier Uhr morgens geöffnet sein, der offiziellen Sperrstunde für den Ausschank alkoholischer Getränke, und zu dieser Zeit werden dann die ersten Delis und Imbißstuben öffnen und Frühstück servieren. Die Szene-Clubs werden bis sechs Uhr morgens durchhalten. Doch sonst herrscht in der Stadt Grabesstille.
Dampf zischt aus den Gullydeckeln.
Gelbe Taxis schießen wie stumme Blitze durch verlassene Straßen.
Ein Schwarzweißfoto von Priscilla Stetson stand auf einer Staffelei vor dem Eingang des Cafe Mouton im Hotel Powell. Die Schrift über dem Foto sah aus, als stammte sie vom Plakat für einen Amateurfilm und sei nachträglich eingefügt worden: Miss Priscilla Steston. Unter dem Foto verkündete dieselbe Schrift:
Täglich
21- 2 Uhr
Die Frau auf dem Foto hätte Svetlana Dyalovich auf dem Titelbild des Time Magazine sein können. Dasselbe flachsblonde Haar, zum Pony geschnitten, das glatt bis auf die Schultern und auf die Stirn fiel. Dieselben bleichen Augen. Dieselben hohen slawischen Wangenknochen. Dieselbe kaiserliche Nase und dasselbe zuversichtliche Lächeln.
Die Frau, die an dem Klavier saß, war vielleicht dreißig Jahre alt und trug ein langes, schwarzes Abendkleid mit einem gewagten Dekollete. Eine cremeweiße Hautfläche, die vom Nacken bis zum Busen reichte, wurde an der Kehle von einer silbernen Halskette unterbrochen, die mit schwarzen und weißen Steinen besetzt war. Als die Detectives hereinkamen und sich an die Bar setzten, sang sie gerade »Gently, Sweetly«. An den Tischen in dem ziemlich kleinen, von Kerzenlicht erhellten Raum saßen vielleicht zwei Dutzend Personen. Es war 1 Uhr 40.
Here with a kiss
In the mist on the shore
Sip from my lips
And whisper
I adore you …
Gently,
Sweetly,
Ever so completely,
Take me,
Make me Yours.
Priscilla Stetson schlug den letzten Akkord des Songs an, senkte den Kopf und betrachtete ehrerbietig ihre Hände auf den Klaviertasten. Freundlicher Applaus.
»Danke«, flüsterte sie in das Klaviermikro. »Vielen, vielen Dank.« Sie hob den Kopf und warf das lange, blonde Haar zurück. »Ich mache vor den letzten Songs eine kurze Pause. Wenn Sie noch etwas bestellen wollen, bevor wir schließen, haben Sie jetzt Gelegenheit dazu.« Ein breites Lächeln, ein Blinzeln. Sie spulte die rhythmisch prägnante Phrase, mit der sie ihre Auftritte stets beendete, routiniert ab, erhob sich und war gerade auf dem Weg zu einem Tisch, an dem zwei stämmige Männer saßen, als die Detectives von ihren Barhockern stiegen, um sie abzufangen.
»Miss Stetson?« sagte Carella.
Sie drehte sich lächelnd um, ganz die Künstlerin, die auf einen Bewunderer reagiert. In ihren hochhackigen Pumps war sie vielleicht einssiebzig, einsfünfundsiebzig groß. Ihre blaugrauen Augen befanden sich
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