Long Reach
er aus Zeigefinger und Daumen eine imaginäre Pistole formte und sie auf meinen Kopf abfeuerte. »Du bist tot«, sagte er. »Du hast fünf von acht. Bei so was Billigem wie dem hier hätte alles sitzen müssen. Schon ein einziger Patzer hätte deine Tarnung auffliegen lassen.«
»Tut mir leid«, murmelte ich. »Ich bin nur ein bisschen nervös. Das war ganz schön verwirrend.«
»Bei mir brauchst du dich nicht entschuldigen, Arschgesicht«, gab Baylis zurück. »Ich bin’s nicht, der die Kugel ins Hirn geblasen kriegt. An dir müssen wir härter arbeiten, als ich gedacht habe.«
Acht
Ian Baylis hielt Wort. Ich konnte ihn jetzt keinen Deut besser ausstehen als am Anfang, aber wie er mich einarbeitete, musste ich doch bewundern. Die Gedächtnisspiele, Tests, willkürlichen Fragen, und wie er immer wieder meine Legende durchging:
»Wie heißt du?«
»Eddie Savage.«
»Geboren?«
»23. Mai.«
»Wo?«
»Lewisham-Klinikum, London.«
»Eltern?«
»Beide tot. Dad Krebs, Mum auch.«
»Was für eine Art von Krebs hatte sie?«
»Brust.«
»Geschwister?«
»Keine.«
»Schule?«
»St. George’s, New Cross.«
»Dein zweiter Vorname?«
»Arthur, nach meinem Opa.«
»Name deines Bruders?«
»Ich …«
»Du hast gezögert. Noch mal von vorn.«
Und weiter machte er, fragte mich aus über meine Kindheit, über Haustiere, die ich nie gehabt, und Urlaube, die ich nie gemacht hatte. Das ging so lange, bis ich schließlich begann, die Geschichten selbst zu glauben. Ich hatte meine imaginäre Kindheit richtig vor Augen, sogar das Haus, in dem ich niemals gelebt hatte.
Sie hatten mir ein neues Ich verpasst.
Es gab noch andere Tests, Belastungskontrollen auf dem Laufband und im Fitnessraum. Puls, Blutdruck, Dauer der Erholungsphase. Oft war noch ein anderer Mann dabei – Ian Baylis nannte ihn nur Oliver. Sagte, wir würden uns noch öfter sehen. Er hielt sich im Hintergrund und beobachtete nur.
Am Abend des vierten Tages ging Ian mit mir in den Pub, irgendwo im Umland von wo immer wir auch waren. Er holte mir ein Bier und wir saßen herum, nippten an unserem Guinness und knackten Erdnüsse. Zunächst blieb er wortkarg, aber dann schien er sich etwas zu entspannen. Nach einer Weile schaute er mich an und sagte, ich sei keine »komplette Vollkatastrophe«, was ich aus seinem Mund als Kompliment auffasste. Dann fragte er, ob ich Pool spiele. Ich sagte Ja, also spielten wir eine Partie und er zog mich ab.
»Du musst deine Taktik verbessern«, sagte er. »Denk über das Spiel nach, statt bloß Kugeln über den Tisch zu schubsen. Stell ein paar Fallen auf. Mach’s deinem Gegner nicht ganz so gemütlich.«
Am nächsten Morgen stellte mich Baylis dem Kampfsporttrainer vor, der so ziemlich dasselbe sagte. Ich hatte als Kind etwas Judo gemacht und geboxt, aber dieser Typ erklärte mir, ich könnte mich noch nicht mal aus einer durchgeweichten Papiertüte freikämpfen. Davon abgesehen lautete sein Rat, nie einen Kampf zu provozieren. Wenn irgend möglich, sollte ich verschwinden. Wenn aber Angriff unvermeidlich war, sollte ich, so schnell es ging, die Oberhand gewinnen – und das mit jedem Mittel. Er zeigte mir Sachen, die beim Judo oder im Boxring nie durchgegangen wären. Straßenkampftechniken. Wie man zuschlug und dem anderen dabei seinen Daumen ins Auge rammte. Wie man die Nase des Gegners mit dem Handballen von unten erwischte. Wie man den anderen k. o. schlug, indem man ihm den Ellbogen in den Solarplexus oder die Schläfe rammte oder das Knie gegen das Herz. Jemanden mit einem Kugelschreiber in die Luftröhre stach oder ihn mit einem Stift und einem Schnürsenkel erdrosselte.
Zum Überleben, sagte er, brauche er an schmutzigen Tricks nicht mehr als einen Kugelschreiber. Detailliert malte er aus, was für Schmerzen das spitze Ende eines Kulis verursachen konnte, wenn man es jemandem ins Ohr rammte; wie tödlich es sei, wenn man es mit einem Schuhabsatz ganz reinhämmerte. Ähnlich effektiv: Wenn man den Kuli oder einen gespitzten Bleistift hart genug ins Auge drückte, durchschlug er die Augenhöhle und drang ins Hirn ein.
Hübsch. Gefährliche Dinger, diese Kulis.
Der Trainer war untersetzt und hatte die platte Nase eines Bullterriers. Mit seiner kratzigen walisischen Stimme bellte er mich an, während ich auf den schweren Sack eindroschund Haken auf seine Pratzen semmelte. Er brüllte mich an, während ich den Speedball bearbeitete, und warf mir Beleidigungen an den Kopf, während er auf meinen
Weitere Kostenlose Bücher