Lord Camerons Versuchung
seines kleinen Bruders, der jedes Wort so unglaublich genau nahm, schon wieder verloren hatte. Ian hatte den Blick abgewandt, um Beths Gesicht zu betrachten, das vom Schein explodierender Feuerwerkskörper erhellt wurde.
»Ian, erinnerst du dich, was in dem Brief stand, den ich dir heute Morgen gezeigt habe?«, fragte Cameron.
Ohne den Blick von Beth abzuwenden, begann Ian, die Sätze herunterzusagen, wiederholte die blumigen Worte in rascher Monotonie.
Cameron hob die Hand. »Gut. Das reicht. Danke.«
Ian verstummte, als wäre ein Wasserhahn zugedreht worden. Cameron wusste, dass Ian nur wenig darauf geachtet hatte, was der Brief tatsächlich ausgesagt hatte, er konnte aber die Worte in deren genauer Folge wiederholen. Würde das noch in Jahren können.
»Die Frage ist, ob Mrs Douglas ihn geschrieben hat«, sagte Cameron, halb zu sich selbst.
»Das weiß ich nicht.«
»Ich weiß, dass du es nicht weißt. Ich habe nur laut nachgedacht.«
Ian musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Mrs Douglas schreibt Briefe an Isabella.« Nachdem er das gesagt hatte, wandte Ian seinen Blick wieder Beth zu.
»Ja, sie sind alte Freundinnen, aber das hat nichts zu tun mit –« Cameron verstummte. »Ah, ich verstehe. Entschuldige, Ian, ich hab’s nicht gleich begriffen.«
Ian antwortete nicht. Cameron drückte ihm die Schulter, aber nur kurz, weil er wusste, dass sein Bruder es nicht mochte, berührt zu werden – außer von Beth. Oder Isabella. Nur die allerschönsten Frauen für Ian MacKenzie. So war das.
»Ian, weißt du, warum jeder denkt, du bist verrückt?«
Ian sah Cameron an. Er war ihm nicht wichtig, aber er hatte gelernt, die Menschen anzusehen, wenn sie mit ihm redeten.
Cameron fuhr fort: »Weil du uns zwar eine Antwort gibst, aber all die Stufen auslässt, die wir normal Sterblichen brauchen, um darauf zu kommen. Du meinst, ich soll Isabella bitten, mir einen von Mrs Douglas’ Briefen zu zeigen, um die Handschriften zu vergleichen.«
Noch immer antwortete Ian nicht. Als habe er vergessen, worüber sie überhaupt gesprochen hatten, wandte er sich von ihm ab und ging zu Beth, dem Anker in seiner Welt.
Cameron ließ ihn gehen. Eine weitere Feuerwerksrakete explodierte, die Hitze streifte Camerons Gesicht.
Im Schein des Lichts sah er, dass Ainsley sich von Mrs Yardley getrennt hatte und mit festem Schritt einen Pfad hinunterging, der zu dem großen Garten führte, hinein in die Dunkelheit. Während die Gäste noch über den Funkenregen klatschten, wandte sich Cameron um und folgte ihr in die Nacht.
6
»Er hat Ihnen also den Brief gegeben?« Phyllida Chase starrte Ainsley unter dem flackernden Schein des fernen Feuerwerks an. Wie verabredet hatte sich Ainsley mit ihr am Brunnen in der Mitte des Gartens getroffen. Die Gäste hielten sich noch an der Westseite des Hauses auf, um das Spektakel zu erleben.
»Lord Cameron hat ihn mir gegeben, ja«, bestätigte Ainsley. »Sie haben ihm den Brief so offensichtlich zugesteckt, obwohl Sie wussten, dass ich es sehen konnte. Warum?«
Phyllidas Augen glitzerten. »Sie sollten sehen, dass ich die Briefe jederzeit jedem aushändigen kann, wenn Sie sich zu viel Zeit mit dem Geld lassen. Allerdings habe ich nicht erwartet, dass Sie versuchen würden, Ihren eigenen Handel mit ihm abzuschließen. Sie müssen mit mir verhandeln, meine Liebe. Mit niemandem sonst.«
»Sie sind eine Diebin, Mrs Chase«, entgegnete Ainsley kalt. »Deshalb werde ich verhandeln, mit wem immer ich es für nötig halte. Ich habe Ihnen das Geld gebracht, jetzt geben Sie mir wie abgemacht die Briefe.«
»Sie hätten nicht versuchen sollen, hinter meinem Rücken zu handeln, Mrs Douglas. Weil Sie das getan haben, werden die restlichen Briefe Sie sehr viel mehr kosten als ursprünglich ausgemacht. Eintausend Guinees.«
Ainsley starrte sie an. »Eintausend? Wir hatten uns auf fünfhundert geeinigt. Es war schon schwer genug, sie zu überreden, mir so viel zu geben.«
»Dann hätte sie solche Briefe nicht schreiben sollen. Eintausend Guinees Ende der Woche, oder ich werde sie an eine Zeitung verkaufen.«
Ainsley schlug mit der Faust gegen ihr Bein. »Ich kann keine tausend Guinees beschaffen. Nicht in vier Tagen.«
»Dann fangen Sie am besten gleich an, Telegramme zu verschicken. Sie kann es sich leisten, trotz all ihres Gejammers. Zudem ist es ihre eigene Schuld; sie hätte nicht so indiskret sein sollen. Eine Woche.«
Ainsley hätte am liebsten laut geschrien. »Warum um alles in der Welt tun Sie das?
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