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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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Zukunft die Augen aufhalten und doppelt wachsam sein müssen – falls es für mich eine Zukunft gab und meine Suche nicht in dieser Station ein unverhofftes Ende fand. Meine momentane Lage war nicht gerade rosig.
    Während das namenlose Gemüse all meine Bemühungen, mich zu bewegen, mit seinen Giftranken im Keim erstickte, näherten sich vom Fahrstuhl zwei Personen in gelben Kunststoff-Schutzanzügen. Sie trugen die dazugehörigen Helme, wie es beim Bergen von Kontaminations-Opfern Vorschrift war, jedoch keine Schutzvisiere. Wahrscheinlich, damit diese in der herrschenden Kälte nicht von innen beschlugen. Von jedem ihrer Helme strahlte mich eine Lampe an, so daß ich die Gesichter der beiden nicht erkennen konnte. Einer von ihnen führte einen kofferartigen Behälter mit sich und hielt einen dicken Stab in seiner Hand, der durch ein Kabel mit dem Behälter verbunden war. Es wirkte wie ein Tonbandgerät mit Mikrophon, diente jedoch einem gänzlich anderen Zweck. Wäre es mir nicht so beschissen gegangen, hätte ich über diese Posse gelacht.
    »Du kannst ihn jetzt loslassen«, entschied der Linke der beiden. Ich erkannte seine Stimme. Der Mann hieß Bryan.
    Die Schlingen lösten sich von mir, und der Wächter richtete sich wieder auf. Ich atmete durch, blieb aber liegen und blinzelte in die Helmlampen.
    »Stan«, stellte der Kofferträger fest. »Hätte nicht gedacht, daß ausgerechnet du mal so blöd sein würdest.«
    »Hallo, Todd«, krächzte ich. »Du solltest mal einen Blick nach draußen werfen. Ein herrlicher Sonnenuntergang. Solche Farben hast du noch nie gesehen …« Ich hustete Nebelwolken in die eisige Luft und krümmte mich theatralisch in Krämpfen.
    Todd und Bryan sahen sich an, dann drückte Todd einen Knopf an seinem Koffer und hielt anschließend den Stab über mich. Er sah aus wie ein Fernsehreporter, der für Radio Gamma ein Interview mit einem Strahlungsopfer führen sollte. Aber der Stab war keinesfalls ein Mikrophon. Aus dem Kasten in Todds Hand drang das hysterische Knacken eines Geigerzählers. Was er wirklich zählte, wußte ich nicht. Wahrscheinlich Pawlowsche Hunde, aber garantiert keine Radioaktivität. Das Gerät diente lediglich dem Zweck, alle vermeintlich Kontaminierten davon zu überzeugen, daß sie wirklich verstrahlt waren und ihr Aufenthalt in der Kammer unabdingbar war. Die Betroffenen glaubten es ebenso wie die Sanitäter. Moralisches Placebo. Drinnen bist du sicher, draußen bist du tot. Regisseure dieser Clowneske waren die Lords.
    Hatten sich die Neugierigen einmal nach draußen gewagt, lungerten sie staunend und verschüchtert in der Nähe der Station herum, betrachteten das furiose Abendrot, die windstille Ebene, die Leere, und wunderten sich, wie friedlich die Welt nach dem Inferno war. Vielleicht liefen sie ein paar hundert Meter weit in die Wüste, in die Bewegungslosigkeit, in die Stille. Dort draußen meldete sich schließlich irgendwann ihr Gewissen: Radioaktivität ist gesundheitsschädlich! Man riecht sie nicht, sieht sie nicht, schmeckt sie nicht. Dann wurde das flammende Abendrot über dem Horizont zu einer Offenbarung des Jüngsten Gerichts, die frische, saubere Luft mit jedem Atemzug giftiger, der Staub, über den sie schritten, zur Asche von Milliarden verbrannter Körper und die Stille zu einer erdrückenden Bedrohung, die ihnen jeglichen Mut raubte. Was habe ich getan? fragten sie sich dann, aber niemand antwortete ihnen. Gott, was habe ich getan? Und nachdem ihnen auch Gott nicht geantwortet hatte, überkam sie die Erleuchtung der Todgeweihten, die sprach: zu spät, zu spät …!
    An der Oberfläche wurden sie alle zu kleinmütigen Hypochondern.
    Ironischerweise trug niemand, der sich absichtlich oder unabsichtlich hinaus verirrt hatte, nach seiner reumütigen Rückkehr ins bescheidene Bunkerheim dauerhafte Strahlenschäden davon oder ging gar an den Folgen seines Ausflugs zugrunde. Alle wurden wie durch ein Wunder wieder gesund, nachdem sie in der Kammer geschmort hatten. Dann war auch ihr Vertrauen in die Unterwelt geheilt und ließ sie erleichtert bekennen: da hab ich ja nochmal Glück gehabt!
    »Mann, ich hab so einen ekelhaften Geschmack im Mund«, jammerte ich. Ich biß mir auf die Zunge und spuckte blutigen Speichel vor Bryans Füße.
    Todd schaltete den knackenden Geigerzähler ab und steckte den Stab in eine Halterung des Kastens. Zusammen mit Bryan zog er mich auf die Beine. »Kannst du laufen?« erkundigte er sich.
    »Geht schon, glaube ich.«

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