Lord Gamma
Ich zitterte vor Kälte. Schwankend taxierte ich den Wächter. Bryan und Todd stützten mich, als wir gemeinsam an der Kreatur vorbei zum Fahrstuhl liefen. Der Steg schien tatsächlich über einen bodenlosen Abgrund zu führen. Ich sah nach unten, konnte in der Tiefe aber nichts erkennen.
»Du kannst deinen Posten wieder einnehmen«, sagte Bryan zu dem Wächter.
»Zweifellos«, entgegnete die Kreatur. Sie hüpfte allerdings nicht hinter uns her, sondern zog sich am Geländer über den Steg.
In der Liftkabine angekommen, behielten mich Bryan und Todd in ihrer Mitte, ließen mich aber los. Ich rieb mir die durchgefrorenen Glieder, meine Zähne klapperten.
»Wie lange warst du draußen?« wollte Bryan wissen, als sich die Tür geschlossen hatte und der Fahrstuhl in die Tiefe fuhr.
Ich zuckte die Achseln. »Weiß nicht. Drei Stunden, vier … bin ein paar Kilometer in die Wüste …«
»Idiot«, sagte Todd.
»Keine Sorge, Stan«, versuchte mich Bryan aufzumuntern. »Mit etwas Glück bist du in ein paar Tagen wieder beisammen. Hoffe, du ziehst daraus eine Lehre.«
Ich nickte, hustete, stöhnte. Nach wenigen Sekunden hatte der Lift sein Ziel erreicht und bremste ab. Ich hielt die Luft an und spannte die Muskeln. Als sich die Lifttüren öffneten und den Blick auf einen leeren Korridor freigaben, hob ich beide Arme, rammte den linken Ellbogen in Bryans Magen und den rechten in Todds Gesicht. Bryan bekam billardkugelgroße Augen und sank mit einem Grunzen in sich zusammen, Todd taumelte, einen undefinierbaren Laut von sich gebend, hintüber gegen die Rückwand des Fahrstuhls, kippte zur Seite und regte sich nicht mehr. Angelockt durch den Lärm tauchte auf dem Gang ein halbnacktes Pärchen auf, das neben dem Aufzug sein Liebesspiel begonnen hatte. Die beiden, die nicht älter als sechzehn sein konnten, starrten neugierig in die Kabine. Ich drückte im Lift die Taste für ›Aufwärts‹ und sprang durch die sich schließenden Türen an ihnen vorbei in den Korridor. Der Junge und das Mädchen flüchteten erschrocken zur gegenüberliegenden Flurwand und starrten mich entgeistert an. Ehe sich Bryan aufrappeln konnte, hatten sich die Lifttüren geschlossen, und der Fahrstuhl entschwand nach oben.
Ich rieb mir die Müdigkeit aus den Augen und musterte das Pärchen. Den Burschen hatte ich schon einige Male zu Gesicht bekommen, konnte mich aber nicht mehr an seinen Namen erinnern. Das Mädchen hieß Anna. Beide waren – zumindest teilweise – mit schwarzen Lack- und Lederklamotten bekleidet.
»Was glotzt ihr so?« fragte ich. »Macht gefälligst weiter. Genießt euer Scheißleben!«
Beide sperrten die Münder auf, erwiderten aber nichts. Ich ließ sie so stehen und beeilte mich, in der Station untertauchen, ehe Bryan und sein nasengeschädigter Kollege mit dem Fahrstuhl zurückkamen. Ein schadenfrohes Grinsen machte sich auf meinem Gesicht breit. Mein Kolonie-Ego würde in Kürze Probleme bekommen. Ich brauchte mich nur für eine Weile zu verstecken und abzuwarten, bis die Sicherheitskräfte es aufgegriffen und in die Kammer gesteckt hatten. Vielleicht bekam mein Alter Ego zusätzlich noch ein paar Tage Hausarrest für die Prügelei. Jedenfalls konnte es sich nur um Minuten handeln, ehe es auf die eine oder andere Weise aus dem Verkehr gezogen war. Der arme Kerl würde überhaupt nicht begreifen, wie ihm geschah.
Naos 2
MEINE AUGEN SIND NIEMALS geschlossen gewesen. Offen zu Eis erstarrt! Ungeheuerlich. Muß ganz schön gestaunt haben im letzten Augenblick! Würde mich interessieren, was es damals noch zu glotzen gab …
Ich starre gegen eine Decke. Vielleicht hänge ich auch festgefroren an einer Decke und starre auf einen Fußboden. Oder von einer Wand gegen eine andere. Wie auch immer, was ich sehe, ist potthäßlich, dunkelgrau, (metallisch?), etwa drei Meter von mir entfernt, leicht gewölbt. Ich bin immer noch steif wie ein Stockfisch, und diese lausige Kälte umgibt mich, als hätte sie keine andere Heimat außer mir. Ich vermisse die Schwerkraft, aber vielleicht geht das allen tiefgefrorenen Menschen so.
Ja, ich bin ein Mensch!
Erleichterung. Kein Deckel, keine Scharniere. Das Glücksgefühl erwärmt mich auf minus 70 Grad Celsius. Die Temperatur ist geschätzt. Meine Selbsterkenntnis auch. Aber es scheint wärmer zu werden. Falls ich an einer Decke hänge und runterfalle, wird es ganz schön klirren. Bin gespannt, ob dann alle Körperteile das gleiche denken. Glaube aber, nicht. Finde kein
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