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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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er dann. »Du sitzt dort, wo man dich vorhin an den Baum gebunden hat.«
    Ich preßte die Lippen zusammen, sah in die Richtung, aus der wir gekommen sein mußten. Kaum zwei Kilometer entfernt erhob sich die riesige Steinmauer, viel zu nah angesichts der kilometerlangen Distanz, die wir zurückgelegt hatten.
    »Du hast Babalon unterbrochen«, erklärte Sebastian. »Ich habe so etwas bisher noch bei keinem Spieler erlebt. Eigentlich ist es unmöglich, das Spiel zu beenden. Nur, wenn dein Gehirn keine neurale Aktivität mehr aufweist, bricht der Kontakt ab. Du müßtest theoretisch hirntot gewesen sein, um den Zugriff zu beenden. Ich will damit sagen: Keine Hirnströme mehr, keine Impulse, die gesendet werden, keine Wellen. Nichts, aus dem das Programm etwas konstruieren könnte, und ebensowenig etwas, das die Aufrechterhaltung der Trauma-Welt rechtfertigt, weil der Informationsträger nicht mehr existiert. Das ist so, als wäre der bioneurale Netzstecker gezogen worden. Keine Antwort mehr – ergo: Zugriff Ende …«
    Sebastian redete wie einer der digitalen Informations-Pylone im technischen Museum, die man als Besucher per Knopfdruck aktivieren kann, pausenlos, bis die gespeicherte Information übermittelt worden ist. »… sprich: tot!« brachte er seine Redeflut schließlich auf den Punkt und sah mich an. »Verstehst du?«
    »Natürlich«, beruhigte ich ihn. »So etwas Ähnliches habe ich vor kurzem schon mal gehört. Es passiert mir laufend.« Ich stand auf, sah hangaufwärts und ließ Sebastian mit offenem Mund sitzen. Prill 16 hatte bereits etwas derartiges angedeutet, als ich in Ritas Quartier das Bewußtsein verloren hatte; kein Puls mehr, keine Atmung. Minutentod. Falls das Sublime tatsächlich versuchte, in regelmäßigen Abständen auf mich zuzugreifen, dann hatten sich die Lords in diesem Fall selbst ausgetrickst. Denn wenn das Babalon-Programm in dieser Ebene keine Information mehr von mir empfing …
    Ich grinste, fühlte, wie meine alte Kämpferstimmung zurückkehrte. »Such mich doch, Nikobal!« frohlockte ich leise.
     
    Etwas weiter hügelaufwärts endete der Baumbestand, und wenn mich die Perspektive nicht narrte, war der Grund dafür ein breiter Taleinschnitt, der diese Region der Insel von einer etwas weiter entfernten trennte, in der wieder Bäume wuchsen. Zwei dicke, vielleicht hüfthohe Steinmauern begannen dort, wo die Bäume endeten. Möglich, daß ich mich täuschte, aber sie sahen aus wie die Brüstungen einer Brücke. Der Pfad, auf dem wir nun bergan wanderten, führte direkt auf sie zu.
    Allmählich wunderte ich mich nicht mehr, wieso Sebastian so zielstrebig durchs Dickicht, ja selbst durchs hüfthohe Wasser marschiert war. Er mußte diesen Weg während unserer gesamten Dschungelwanderung vor Augen gehabt haben, als hätte er durch seinen monatelangen Aufenthalt in dieser Ebene tatsächlich die Gabe erlangt, hinter die Kulissen von Babalon zu blicken. Vielleicht war der wahre Grund für seine ›seherischen‹ Fähigkeiten aber auch ein gänzlich anderer. Wenn es tatsächlich ein Morner gewesen sein sollte, der ihn mit meiner Führung beauftragt hatte, steckte mit Sicherheit Gamma dahinter.
    »Was ist das dort vorne?« fragte ich Sebastian.
    »Das Zentrum.« Er wirkte auf mich, als ob ihm etwas auf der Zunge brannte. Als ich ihn darauf ansprach, grinste er entlarvt und sah mich gespannt an. »Verrate mir bitte: Was war in dem Schildkrötengefäß?«
    Ich setzte zu einer spontanen Antwort an, beließ es dann aber bei einem tiefen Durchatmen, schüttelte den Kopf und sagte: »Nicht jetzt.«
    Was den Taleinschnitt betraf, behielt ich recht, doch es war keine Senke, es war ein Canyon. Er war vielleicht siebzig Meter tief, schätzungsweise einhundert Meter breit und besaß senkrecht abfallende Felswände aus Granit, so glatt, als wären sie von einer riesigen Fräse ins Gestein getrieben worden. Es gab keine Vorsprünge oder Spalten, die einem geschickten oder waghalsigen Kletterer ein Emporsteigen ermöglicht hätten, ebensowenig einen Weg oder eine Treppe, um hinabzugelangen. Die Mauern hingegen gehörten tatsächlich zu einer Brücke. Sie spannte sich wie von Gott und guter Hoffnung getragen über den Abgrund, ein gewaltiger Steinbogen, so alt wie ein römischer Aquädukt.
    Die Schlucht wirkte auf mich wie das Gegenstück zu der kolossalen Mauer, die die Insel umgab. Um das Bollwerk zu errichten, schienen seine Architekten sämtliches Gestein, das sie für seinen Bau benötigt hatten, aus

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