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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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wie der Rest der Kolonie. Auf den beiden Kopfkissen glitzerten lediglich zwei weitere Implantate. Ich nahm eines von ihnen in die Hand und hielt es gegen das Licht. Es war so groß wie ein Daumennagel und fast durchsichtig, wie eine Glimmerscheibe. Darin eingebettet lag ein rundes, grünes Objekt, das aussah wie eine Miniaturstraßenkarte von Manhattan. Ein Mikrochip mit Leiterbahnen, feiner als Spinngewebe. Die unzähligen Drähte, die ihm entsprossen, ließen sich trotz ihrer Zartheit weder dehnen noch zerreißen. Ich hielt das Leben, die vierjährige Erinnerung eines Klons in meinen Fingern. Oder war das Implantat nur noch informationsloser Schrott?
    »Weißt du, was das ist?« fragte Prill, die bei mir stand und es ebenfalls neugierig betrachtete. Die Bestürzung über das Erlebte stand ihr noch ins Gesicht geschrieben. Ihre Hände hielt sie hinter dem Rücken, um zu vermeiden, daß ich ihr das ominöse Objekt überreichen konnte.
    »Nein«, log ich. »Ich habe so etwas nie zuvor gesehen.« Zumindest das war die Wahrheit.
    Während ich aus Stans Kleiderschrank ein neues T-Shirt herauskramte und mich umkleidete, vollzog Prill im Badezimmer eine therapeutische Katzenwäsche. Ich rätselte über die Ursache der Entvölkerung. Ob das Verglühen der Klone mit Nikobals Aufenthalt in Babalon zusammenhing? Oder hatte erneut Gamma seine Hände im Spiel? Betraf es auch die Menschen in der zweiten Ebene, oder womöglich alle Stationen entlang der Straße? Und vor allem: warum war Prill nicht davon betroffen? Ich versuchte mir vorzustellen, wie achttausend Prill-Klone verzweifelt durch menschenleere Bunker irrten. Gott mit ihnen …
    Was auch immer der Grund dafür gewesen sein mochte, eines stand nach wie vor fest: wir mußten hier raus! Vielleicht war es tatsächlich Nikobal, der diesen Vorfall zu verantworten hatte. Gamma hatte mich gewarnt. Die Regeln hatten sich geändert – spätestens seit Prills Enthauptung an der letzten Zonengrenze.

 
Naos 8
     
     
    MENSCHEN.
    Sie hocken reglos in ihren Sitzen, alle in derselben Haltung, wie in stiller Andacht. Ihre Köpfe sind nach vorne gesunken, die Hände liegen auf ihren Schößen. Sie schweigen, ihre Augen sind geschlossen. Keiner von ihnen sieht auf, als ich den Vorhang beiseite ziehe. Sein Gleiten in der Führungsschiene ist das einzige Geräusch. Ich höre kein Atmen, erkenne keine Bewegung.
    Seetha drängt sich neben mich, die Arme als Zeichen ihres Unbehagens vor der Brust verschränkt, und späht an meiner Schulter vorbei.
    »Sind sie tot?« fragt sie.
    »Woher soll ich das wissen?« Ich bedeute Seetha, im Korridor zu warten und betrete vorsichtig die Kabine. Es ist ein kleines Coach-Class-Modul mit elf Doppelsitzbänken, in sanftem Blauweiß gehalten, mit blauen Polstern. Dahinter, im Anschluß an einen kurzen Verbindungskorridor, der zwischen der Frontbordküche und einem kleinen Konferenzraum hindurchführt, folgen drei große Economy-Kabinen. Hier finde ich Hunderte von reglosen Menschen. Nicht das leiseste Geräusch erfüllt den Raum, kein Räuspern, kein Rascheln. Grabesstille. Als ich bei einem der Schläfer stehenbleibe, um ihn zu berühren, steht Seetha hinter mir. Ich bilde mir ein, ihren Herzschlag zu hören. Sie wirkt gefaßt, aber ihre Augen beweisen das Gegenteil. Gemeinsam schleichen wir durch einen der Mittelgänge, als befürchten wir, die Menschen durch ein unachtsames Geräusch zu wecken. Auf einigen der vordersten Plätze sitzen Stewardessen. Von den Piloten ist keiner zu sehen. Wahrscheinlich befinden sie sich im noch unerreichbaren Cockpit.
    »Sie atmen nicht«, flüstere ich, als wir die Mitte der dritten Kabine erreicht haben.
    »Sag jetzt bitte nicht, hier sitzen vierhundert Leichen.« Seetha ist kalkweiß im Gesicht.
    »Ich bin mir nicht sicher«, gestehe ich. »Ihre Körper sind hart wie Porzellan, aber warm.«
    Seetha will etwas sagen, bringt aber keinen Ton mehr über die Lippen.
    »Kennst du einen der Passagiere?« frage ich.
    Seetha schreitet die Sitzreihen ab, schaut sich um, beugt sich hin und wieder vor, um in die nach vorne gesunkenen Gesichter blicken zu können, schüttelt den Kopf.
    »Heyheyhey!« rufe ich laut, klatsche in die Hände und sehe mich um. Keine Reaktion seitens der Schläfer. Nur Seetha ist herumgewirbelt, starrt mich an wie einen Idioten, erschrocken und zornig zugleich. Dann ist es wieder sekundenlang still.
    »War nur ein Test«, murmele ich.
    Sie nennt mich das, was ich bereits in ihrem Blick gelesen habe, und

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