Lord Gamma
läuft durch einen Zwischengang in die hintere Kabine. Das Unterdeck ist viel geräumiger als das Oberdeck, mindestens siebzig Meter lang. Ich finde in der Hemdbrusttasche eines Passagiers eine Schachtel Zigaretten, fingere dazu ein Feuerzeug heraus und zünde mir einen der Glimmstengel an. Ein Hustenanfall schüttelt mich schon nach dem ersten Zug. Ich zerdrücke die Zigarette in einem der Sitzascher. Der Qualm verursacht mir Schwindel.
Obwohl die Körper der Passagiere an Marmorstatuen erinnern, fühlt sich ihre Kleidung völlig normal an. Auffallend ist lediglich ein sanfter Widerstand, der ihr anhaftet. Ziehe ich einen Ärmel hoch oder klappe ich einen Kragen um, fällt der Stoff wie in Zeitlupe zurück. Viele der Passagiere tragen Armbanduhren, aber keine von ihnen läuft. Paradoxerweise zeigen alle, ob Zifferblatt oder LCD-Anzeige, das gleiche Datum und dieselbe Zeit an: Freitag, den 14. Juli 2017, 23.19 Uhr. Lediglich der Stand der Sekunden variiert hier und da. Eine korrekte Gesellschaft. Die Maschine war um 21.55 Uhr in New York gestartet …
Vorbei an Waschräumen, Toiletten, einem kleinen Duty-Free-Laden und der Heckküche stoße ich am Ende der letzten Kabine auf eine schmale Treppe, die hinunter zu den Schlafräumen im Unterdeck führt. Ein Regal mit einer Zimmerpflanze schmückt die Treppenbiegung. Sechsundzwanzig Etagenbetten zähle ich, fein hergemacht, mit zurückgezogenen Vorhängen und alles in Blau-Weiß. Die Wände der verschachtelten Räume sind mit kleinformatigen Dekor-Bildern geschmückt; billige Replikate von Ernst, Munch, van Gogh. Alles hübsch, sauber und eng. Diese dreistöckigen Großraumflugzeuge gleichen fliegenden Hotels. Menschen finde ich nicht, daher gehe ich wieder hinauf ins Hauptdeck. Eine innere Stimme sagt mir, daß mich im Oberdeck womöglich eine ähnliche Szenerie erwartet. Vielleicht wurde Seethas und meine Abwesenheit genutzt. Vielleicht hat das Öffnen des Zugangs nur dem Zweck gedient, uns aus dem Oberdeck zu locken, damit wir nicht im Weg stehen, wenn die Passagiere und Sitze ›arrangiert‹ werden.
Wir sind Ratten; Menschenratten in einem dreistöckigen Käfig.
Ich suche nach Seetha, finde aber nur eine verschlossene Toilette. Auf mein Klopfen dringt ein mürrisches Brummen durch die Tür. Nachdem ich Seetha informiert habe, daß ich aufs Oberdeck zurückkehre, lasse ich sie allein. Aus der Toilette dringt Protest, die Geräusche werden hektisch. Sie wird wohl bald nachkommen.
Ich bin das Oberdeck zweimal auf und ab gelaufen. Es gleicht dem Unterdeck, mit dem Unterschied, daß sich auf ihm nur First- und Coach-Class-Plätze befinden. Auf den Sitzen, in derselben starren Versunkenheit wie auf dem Hauptdeck: Menschen. Ich bin wütend und erregt, verspüre den Wunsch, auf etwas zu schießen, um meine Hilflosigkeit abzureagieren. Statt dessen trete ich mehrmals heftig gegen die Tür der Umkleidekabine. Fehlt nur noch der Gnom mit dem Koffer, der mir eine lange Nase zeigt.
Von unseren Aufsehern keine Spur. Niemand, dem ich Rechenschaft abfordern kann. In Reihe achtzehn sind zwei Plätze leer; meiner und der von Prill. Sie ist nicht an Bord, sitzt auch nicht auf einem der anderen Plätze. Hank hockt eine Reihe weiter hinten, auf dem Sitz am Mittelgang, und schlummert wie ein satter Säugling seinen Marmorschlaf. Ich bin ins Untergeschoß geeilt und habe auch hier alles abgesucht, getrieben von dem Gedanken, Prill übersehen zu haben, doch ohne Erfolg. Seetha hat die Toilette verlassen. Sie sieht verheult aus, steht teilnahmslos herum, beobachtet mich und weiß auch nichts Kluges zu sagen. Ich habe ihr auf zwanzigfache Art und Weise erklärt, daß Prill nicht an Bord ist, während ich die Kabine rauf und runter gerannt bin. Seetha sieht mich nur an, und ihre Gleichgültigkeit macht mich noch wütender. Scheinbar reist sie allein. »Was ist los?« fahre ich sie an.
Sie zuckt zusammen. »Ich gehöre nicht hierher«, antwortet sie, so leise, als wäre es ihr peinlich.
»Wie?« frage ich. Seetha hebt die Schultern, knetet den Saum ihrer Bluse. »Und das fällt dir erst jetzt ein?« wundere ich mich. »Du bist seit mindestens zwanzig Stunden hier!« Und ich doppelt so lange, ergänze ich in Gedanken.
Seetha schüttelt kraftlos den Kopf. »Ich hatte schon die ganze Zeit so ein komisches Gefühl. In meinem Beruf wird einem beigebracht, mit so etwas klarzukommen, es in den Griff zu kriegen. In meinem Beruf läuft jedoch das meiste in rationalen Bahnen ab. Aber hier
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