Lord Gamma
heiß sein, doch Gamma lief weiterhin barfuß und ohne sich zu beklagen. Irgendwann bildete sich vor uns eine Beule am Horizont, die ungewöhnlich rasch an Höhe gewann, ein dunkler Schemen in Form eines sanft geschwungenen Hügels. Mehr als einen Kilometer breit und etwa dreihundert Meter hoch wölbte er sich über den Horizont.
»Was ist das?« fragte ich und verlangsamte meinen Schritt. »Ein Luftschiff der Lords?«
»Keine Lords«, versicherte Gamma.
»Es kommt genau auf uns zu!«
»Ruhig Blut, das ist kein Schiff.« Mein Mentor war stehengeblieben, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wippte leicht auf und ab. Es war nun nicht mehr von der Hand zu weisen, daß sich das Objekt auf uns zubewegte. Gamma machte weiterhin keine Anstalten, sich vor dem näherkommenden Etwas in Sicherheit zu bringen.
»Wie kann sich dieses kolossale Ding so schnell bewegen?« wunderte ich mich mit wachsender Unruhe, glaubte nun Gebäude zu erkennen, die den Hügel krönten. »Schwebt es über der Wüste? Bei dieser Geschwindigkeit müßte es Tonnen von Staub aufwirbeln.«
»Nicht dieses Ding bewegt sich, sondern der Boden unter ihm«, erklärte Gamma. »Jeder Punkt dieser Ebene fließt strahlenförmig darauf zu.«
Ich blickte auf die gigantische, sich vollkommen lautlos nähernde Konstruktion und bekam einem Schwindelanfall. Der höchstens noch zwei Kilometer entfernte und unvermindert auf uns zurasende Berg entpuppte sich als gewaltige Stadt, deren Anblick mir den Atem verschlug. Lehmtürme im verrücktesten Tudorstil, die aussahen, als seien sie vor Urzeiten bei einem Sandburgenwettbewerb entstanden, beherrschten den Hügel. Sie bildeten Arabesken aus Lehm und grob behauenem Stein. Auf Fensterflügeln, Bogen, Giebeln, Zinnen und groben Friesen befanden sich Blattranken, Rhomben und Schnörkel. Jeder Quadratzentimeter war bearbeitet. Um die Stadt lag ein schmaler Grünstreifen, bewachsen mit Zedern, Zypressen, Weinranken und Feigenbäumen.
In dem unruhigen Werk aus Stuck, Staub und Grün war keine Logik zu erkennen, kein Punkt, an dem der Blick hätte verweilen können.
»Das alte Norom«, sagte Gamma. Er kniff die Augen zusammen, als erwartete er, zwischen den Gebäuden etwas Außergewöhnliches zu erspähen. »Ich weiß nicht, was das Sublime an diesem architektonischen Trauerspiel findet«, meinte er nach einer Weile kopfschüttelnd, »aber sei’s drum.«
»Sie wird uns zermalmen!« erregte ich mich. Ich ging in die Hocke, in der absurden Hoffnung, die Stadt würde über mich hinwegfegen. Noch immer drang von ihr kein Sterbenslaut herüber. Aber vielleicht trug uns die Ebene schneller als der Schall auf sie zu. Die Entfernung verringerte sich in Sekundenschnelle; fünfhundert Meter, dreihundert, einhundert… Ich sah unserem sicheren Verderben mit aufgerissenen Augen entgegen. Der Stadtberg schien den Boden einfach unter sich zu verschlucken. Zwanzig Meter, bevor er Gamma und mich zerschmetterte, endete Noroms rasender Ansturm, als würde ein im Zeitraffer ablaufender Film innerhalb eines Atemzuges zu einem Standbild gefrieren.
Die Stadt – oder die Ebene – stand still.
Ich starrte atemlos auf den sich wenige Meter vor mir erhebenden Fuß einer breiten Treppe. Sie führte in Serpentinen den Hang hinauf durch ein mächtiges Lanzett-Tor, das sich in einer massiven Stadtmauer auftat. Ausgetretene Pfade zogen sich durch die grasbedeckte Anhöhe, Vogelgesang und das Rascheln von Bäumen und Büschen im Wind waren die einzigen vernehmbaren Geräusche.
Gamma hatte die Hände in die Hüften gestemmt und ließ seinen Blick über die Gebäude wandern. »Was du hier siehst, sind die Ruinen einer Stadt, die in ferner Vergangenheit auf der Erde erbaut wurde; gegen Ende des sechsten Jahrtausends vor eurer Zeitrechnung. Ihr jetziger Zustand entspricht etwa dem des späten zweiten Jahrhunderts. In deiner Zeit ist der einstige Stadthügel nichts weiter als eine unscheinbare Anhöhe in der jemenitischen Wüste. Du siehst die Zukunft der Vergangenheit, Stan.«
Zweifelnd erhob ich mich aus meiner Kauerstellung. »Es ist so still«, wunderte ich mich. »Ist die Stadt verlassen?«
Gamma atmete tief durch. »Das will ich doch hoffen.« Dann begann er, die Treppe zum Stadttor hinaufzusteigen.
Alle Gebäude Noroms schienen einst Paläste gewesen zu sein. Überall sah ich schiefstehende Türme, von der Hälfte aller Bauten am Stadtrand waren nur noch Felder aus getrocknetem Lehm und zerbröckelten Steinen
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