Lord Gamma
beim Versuch, sie wieder von der Tür zu lösen. Die Schuhe eines Passagiers anziehen und die Tür mit dem Fuß zuschieben? Aber wie einen der Schuhe über seinen marmorharten Fuß kriegen? Vielleicht ist es ja nur der Schock, der mich so frieren läßt. Trotzdem, es ist verdammt kalt, und die Luft in der Kabine ist verdammt dünn!
Aber es ist kein Vakuum, sonst wäre mein Blut längst verdampft und ich hätte mich zu einem unförmigen Ballon aufgebläht. Ich wage es, die Maske für ein paar Sekunden herunterzunehmen, stehe mit angehaltenem Atem auf der Stelle. Ausatmen. Nicht zu schnell, sonst klappen mir die Lungenflügel zusammen. Der Atem quillt so dick und weiß wie Zuckerwatte aus meiner Nase. Der Versuch einzuatmen. Ich kriege tatsächlich etwas Luft in die Lungen! Aber der Effekt ist gleich Null. Ich beginne zu japsen wie ein Hund, atme dann tief, lang und schnell. Ja, so geht es besser, aber ich kriege immer noch zu wenig Sauerstoff.
Hänge mich wieder an die Maske, bis sich mein Kreislauf beruhigt hat. Der Unterdruck zwickt im gesamten Gesicht. Ich fürchte um meine Trommelfelle. Das Nasenbluten zu stoppen, habe ich aufgegeben. Auch aus meinen Ohren läuft weiterhin Blut. Ich werde nicht ersticken, denke ich, sondern verbluten. Nein, vorher werde ich erfrieren.
Zum Überleben braucht der Mensch einen Luftdruck von mindestens 480 Millibar, heißt es. Er ist an den hohen Luftdruck der Erde gewöhnt, 1014 Millibar auf Höhe des Meeresspiegels. Schon ab einer Höhe von 8000 Metern wird der Luftdruck zu gering. Oberhalb von 13000 Metern kann ein Mensch ohne Sauerstoffversorgung gerade mal fünfzehn Sekunden bei Bewußtsein bleiben. Vier Kilometer höher beginnt der Stickstoff im Blut zu sieden. Blasen bilden sich in den Gelenken, Wasserdampf füllt die Lungen. Ich lebe aber noch. Demnach muß sich das Flugzeug in einer Höhe zwischen zwölf und siebzehn Kilometern befinden.
Da der Unterdruck den Sauerstoff durch die Haut entzieht, kann ich die Luft kaum länger als zehn Sekunden anhalten. Ein tiefer Atemzug, dann langsam laufen. Zwei Schritte, und ich stehe vor der Tür und blicke nach draußen.
Vor einem endlos gähnenden Abgrund zu stehen ist kein Vergleich zu der Erfahrung, an der Schwelle zum Nichts zu stehen. Was aufgrund der Bordbeleuchtung durch die Kabinenfester wie Schwärze gewirkt hat, ist in Wirklichkeit ein dunkles Ultraviolett von unglaublicher Tiefe. Ich zittere am ganzen Körper, vor Kälte und vor Ehrfurcht. Die Luft, sofern man sie als solche bezeichnen kann, riecht nach Ozon. Seethas Körper ist längst in der Dunkelheit verschwunden.
Nachdem die Türen in den Kabinenwänden aufgetaucht waren, hatten wir uns an einem der Notausstiege zu schaffen gemacht. »Der Weltraum?« hatte ich gelacht. »Wenn da draußen tatsächlich ein Vakuum herrscht, bekommen wir diese Tür sowieso nicht auf.«
»Und wenn wir uns unter Wasser befinden?« hatte sie gefragt.
»Dann geht es um so leichter. Die Kabine implodiert. Weder das eine noch das andere werden wir überleben. Aber glaub mir, dort draußen ist weder das All noch die Tiefsee, sonst wären wir längst tot.«
Dachte ich. Hatte geglaubt, es mal wieder besser zu wissen, durchzublicken, im Bilde zu sein, was die Naturgesetze angeht. Unsere Alles-ist-falsch- Umgebung hätte mich eines Besseren belehren sollen. Nun habe ich Seetha auf dem Gewissen, die sich von meiner Selbstsicherheit hatte anstecken lassen. Die Tür ging fast spielerisch leicht auf, als ich den Hebel runterdrückte, fast wie in der U-Bahn. Klick, ein Stück nach innen, und Bssss, zur Seite weg. Nie werde ich Seethas ungläubig staunendes Gesicht vergessen, ihren Blick, mit dem sie mich bedachte, ehe sie von jener unwiderstehlichen Kraft nach vorne gerissen wurde, das Zischen entweichender Luft, das sich innerhalb einer Sekunde zum heulenden Orkan steigerte, Seethas Haar, das für einen Augenblick durcheinandergewirbelt wurde, als sei die Böe eines Wintersturmes hineingefahren – ihren langgezogenen, sich immer weiter entfernenden Schrei, ihren in die Dunkelheit trudelnden Körper in dem grünen Kleid und der Sprühwolke aus kristallisiertem Erbrochenen …
Ich hätte es nie für möglich gehalten, daß sich die Tür unter solchen äußeren Bedingungen überhaupt öffnen ließ. Der Kabinen-Innendruck hätte sie unverrückbar in ihren Rahmen pressen (oder der Unterdruck in ihn hineinsaugen) müssen. Aber sie glitt einfach auf. Flutsch, und Seetha war draußen. Sie hatte keine
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