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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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einen Schuß!« bestimmte ich.
    Hanks Augen hingen an der schwarzen Hülse. »Was ist das?«
    »Laß dich überraschen.« Ich zwinkerte ihm zu, legte den Downer an seinen Hals und drückte ab. Ein leises Zischen, Hank riß die Augen auf.
    »Aah, irre …!« stöhnte er verzückt. Er verdrehte die Augen, plumpste rücklings auf sein Bett und rührte sich nicht mehr. Ich betrachtete ihn eine Weile. Hanks Gesichtszüge waren entspannt, beinahe friedlich. Er demonstrierte eine mustergültige Injektionsmetamorphose. Ich lud eine neue Patrone in den Downer und verstaute ihn wieder in meiner Jackentasche. Beim Durchstöbern von Hanks Wohnung fand ich zwischen Bergen kurioser Klamotten und Müll eine schwarze Kopfmaske aus glattem, weichem Leder. Sie besaß runde Aussparungen für die Augen, zwei Nasenöffnungen und einen rechteckigen Schlitz in Mundhöhe. Im Nacken befand sich ein Schnürverschluß. Ich zog die Maske auf und betrachtete mich in Hanks Schlafzimmerspiegel. Es sah schlichtweg lächerlich aus. Von Tarnung konnte kaum die Rede sein, eher von Fastnachtskostümierung. Ich sah aus wie der Henker von Milwaukee. Kein Mensch würde allerdings erkennen, wer sich unter der Maske verbarg, und so beschloß ich, sie aufzubehalten. Hoffentlich war Hank nicht der einzige Perverse in der Station.
    Ich warf einen letzten Blick auf den Schlafenden und seine Maschine. Dann löschte ich die Kerzen, öffnete die Tür und schlüpfte hinaus auf den Korridor.
    Es gab nur zwei Arboreten. Beide waren verhältnismäßig weiträumig angelegt und erinnerten mehr an avantgardistische Kunst- und Klanggärten als an Erholungsparks. In ihnen herrschte ständiges Zwielicht. Keine künstlichen Sonnenstrahlen fanden ihren Weg hinab auf den Boden, das Licht kam einzig von den Pflanzen und gelegentlich sogar von den Bewohnern selbst, die sich mit leuchtenden Girlanden, Gürteln oder Stirnbändern geschmückt hatten. Die Stimmung in den Arboreten war dadurch ebenso festlich wie bizarr.
    Während ich die Anlagen durchstreifte und nach Prill Ausschau hielt, kreisten meine Gedanken um jene Stimme, die Hank als seinen Mentor bezeichnet hatte. Da sie, wie er behauptete, aus dem Radio zu ihm sprach, konnte es sich um Gamma handeln. Wenn das wirklich zutraf, wie kam er dann an den Wächter-Code? War er womöglich gar kein Mensch, der aus einer verborgenen Radiostation heraus agierte? Einzig die Lords verfügten über sämtliche Codes und das technische Know-how ihrer Anlagen. Aber was ergab das für einen Sinn? Falls es zutraf, daß Gamma selbst ein Lord war, warum übermittelte er dann Hank – ausgerechnet Hank! – dieses technische Wissen und den Code eines Wächters und störte durch ihn die Ordnung einer Station?
    War er ein Saboteur? Und welche Rolle spielten Prill und ich in diesem geheimnisvollen Spiel?
     
    Ich fand Prill im zweiten Arboretum. Es war purer Zufall, daß sie mir in der anonymen Masse schwarzgekleideter, halbnackter, nackter und überwiegend maskierter Individuen überhaupt auffiel. Sie war etwa zehn Meter von mir entfernt unter einem jungen Ölbaum stehengeblieben, der mit Hunderten von ultraviolett strahlenden Lämpchen geschmückt war, welche ihr Kleid in bläulichem Weiß erstrahlen ließen. Ohne diesen Effekt wäre ich zigmal an ihr vorbeigelaufen, ohne sie zu bemerken. Sie hatte ihre Arme erhoben und den Kopf in den Nacken gelegt und ließ sich illuminieren. Das UV-Licht verwandelte sie in ein überirdisches Wesen, in eine Lichtgestalt in dieser Dunkelwelt. Nach wenigen Augenblicken schien sie der Helligkeit überdrüssig geworden zu sein und lief weiter. Besser gesagt: sie wandelte. Ihr Gang war erhaben, würdevoll, wie das Gleiten eines Schwans. Ich folgte ihr, ohne mich ihr zu nähern. Sie trug keine Maske, aber so etwas wie einen Schleier, der ihr Gesicht verschwimmen ließ. Ihre schwarzen Haare hatte sie zu einem großen Knoten gebündelt, der ebenfalls von diesem weißen Gespinst zusammengehalten wurde. Hin und wieder blieb sie stehen, als müsse sie sich orientieren, änderte dann ihre Richtung und lief weiter.
    Ich schlenderte so unauffällig wie möglich hinter ihr her. Möglicherweise aber nicht unauffällig genug, denn schon bald hatte ich das Gefühl, meine Verfolgung nicht mehr allein zu bestreiten. Die Musik und die Klänge übertönten alle Laufgeräusche. Ich warf einen Blick über die Schulter und entdeckte ein Pärchen, das mir in geringem Abstand folgte. Die Frau mochte Anfang dreißig sein. Sie war einen

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