Lord Gamma
Station wandelten.
Angesichts dieser Hierarchie wunderte es mich kaum noch, warum Melissa mich so selbstverständlich vereinnahmte. Würde ich mich gegen ihre Annäherung wehren, bekäme ich wahrscheinlich eine Disziplinarstrafe aufgebrummt.
Für die Ordnung in der Station sorgten Sicherheitseinheiten, denen insgesamt zwanzig Bewohner angehörten. Diese traten jedoch nicht uniformiert auf, sondern lebten bescheiden innerhalb der Gemeinschaft. Erst wenn es die Situation erforderte, traten sie in Erscheinung, eine Art Bürgerwehr, der auch Todd und Bryan angehörten. Sie besaßen einen Sonderstatus, der sie über allen Kasten stehen ließ, ebenso wie Ärzte, Lehrer, einen sogenannten Entertainer (was für ein Amt dies auch immer sein mochte) und die drei Priester verschiedener Glaubenslehren, welche täglich in einer Gebetshalle Durchhalteparolen predigten und die Bewohner ermahnten, in die Zukunft statt in die Vergangenheit zu blicken.
Die Eminenz im Hintergrund, den Lord, erwähnten Melissa und Clemens mit keinem Wort. Überraschenderweise schien er auch keinen Adjutanten innerhalb der Station zu besitzen, der seine Interessen vertrat. Im Großen und Ganzen wurde diese Kolonie folglich durch eine Mischung aus verborgener Autokratie, Aristokratie und Oligarchie verwaltet, wobei letztere aus einem zehnköpfigen Überlebensrat bestand, der wöchentlich zusammentraf, aber scheinbar nicht über den Sidds stand. Er war sozusagen die Opposition.
Auf der Lichtung hatten sich etwa vierhundert Bewohner versammelt. Sie Menschen zu nennen, gliche Schönfärberei. Melissa, Clemens und mich umringten federgeschmückte Männer und Frauen in beinlangen Lackstiefeln, leder- und latexverhüllte Selbstdarsteller, durchsetzt von Nudisten, Halbnudisten und finsteren Gestalten, die einer hiesigen Motorrad-Gang anzugehören schienen. Rechts neben mir stand eine junge Frau in einem Kleid aus Briefmarken, an ihrer Hand einen Begleiter, der aussah wie eine Kombination aus Braunbär und Slipeinlage. Vereinzelt warteten entrückte Gestalten, hauchdünne Gewänder darbietend, die sich nur noch als Textilproben bezeichnen ließen. Die gesamte Horde wirkte wie eine Melange aus einer Fetischisten-Selbsthilfegruppe und der Jahresvollversammlung eines Swinger-Clubs. Ich fiel nicht im geringsten auf.
Auf der anderen Seite des Kreises entdeckte ich Prill wieder. Ich versuchte, Blickkontakt herzustellen, konnte aber nicht mit Gewißheit sagen, ob sie mich sah. Der Schleier vor ihrem Gesicht verhüllte ihre Augen.
Von einem Augenblick zum anderen spielten alle Lautsprecher des Arboretums im Einklang. John Dunstables Agnus Dei ließ die Versammelten verstummen. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf den Boden in der Mitte des von ihnen gebildeten Kreises. Sie starrten auf das Gras, als wollten sie kraft ihrer Gedanken die Toten wiedererwecken. Dunstables Grabinschrift beschreibt den Komponisten als Fürsten der Musik, Mathematiker und Astronom. Vielleicht sah der hiesige Lord in ihm und seinem Werk eine verwandte Seele. Jedenfalls besaß er ein Gespür für die dramatische Untermalung tagtäglicher Banalitäten.
Einen Atemzug lang herrschte Stille im Park, dann erklang Debussys Fites, und der Boden in der Mitte der Versammelten öffnete sich. Aus kitschigem Kunstnebel stieg zur langsam anschwellenden Musik eine gewaltige Pyramide aus bunten Getränkegläsern empor. Ehe sich das Kunstwerk gänzlich aus der Tiefe erhoben hatte, liefen die ersten Bewohner bereits zu ihm hin und griffen sich begierig, aber diszipliniert Gläser herab. Jeder der Versammelten begnügte sich mit einem Drink.
»Komm schon«, drängte mich Clemens und zog mich am Arm hinter sich her, »worauf wartest du?«
Ich ließ mich von ihm zur Gläserpyramide zerren. Melissa hatte ich aus den Augen verloren, ebenso Prill, die hinter wimmelnden Leibern verschwunden war. Zweifellos bildete dieser theatralische Ausschank den Höhepunkt eines jeden Tages. Es dauerte nicht lange, bis ich auch den Grund dafür herausfand. Ich hatte mir wahllos einen der Drinks vom Stapel genommen und schlenderte daran nippend durch die sich langsam wieder im Arboretum verstreuende Menge. Das Getränk war irgendein Cocktail aus Kaffee und Likör. Es schmeckte seltsam, aber nicht unangenehm. Clemens trottete neben mir her und schwatzte ununterbrochen auf mich ein. Irgendwann erspähte ich auch Prill wieder. Sie stand noch an derselben Stelle wie zuvor, teilnahmslos und ohne Drink. Ich stellte mich
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