Lord Gamma
Hahn wieder zu und starrte in den Abfluß. Er bestand aus zwei fleischigen Lippen, die zu einem O geformt waren. Eine feuchte, rote Zunge schlängelte sich aus ihm heraus und leckte über den runden Rand.
»Küß mich, Stan«, hauchte der Abfluß.
Ich starrte ihn an.
»Sei nicht so schüchtern, gib mir einen Kuß …« Aus der Tiefe des Beckens drang begieriges Stöhnen.
Ich riß meinen Kopf in die Höhe und blickte in den Wandspiegel. Meine Pupillen waren stecknadelkopfgroße schwarze Punkte, die graublauen Iriden wäßrig. Wassertropfen bedeckten mein Gesicht, ein bleiches Antlitz wie aus Wachs. Ich weilte schon viel zu lange auf dieser lichtarmen Welt, sah aus wie ein Leukämiekranker. Mein schwarzes Haar war zerzaust, die Lippen glänzten violett im Neonlicht. Die etwas zu hohe Stirn, der leicht gekrümmte Nasenrücken, die Ansätze von Tränensäcken unter meinen Augen, alles wirkte künstlicher als bei einem Klon. Ein Bluterguß zierte zudem meine Stirn, ein Souvenir meines Treppensturzes, das ich erst jetzt bemerkte. Ich zog ein Handtuch vom Halter und trocknete mich ab. Das Tuch warf ich ins Waschbecken, um den Abfluß zu bedecken.
»Hallo, Stan!« raunte der Haartrockner, als ich ihn aus seiner Wandhalterung zog. Er öffnete zwei Augen, die sich links und rechts an seinem Gehäuse gebildet hatten, und einen Mund, der an Stelle der Heißluftdüse klaffte. Das Ding in meiner Hand sah aus wie ein deformierter Schafskopf. »Deine Hand fühlt sich gut an«, säuselte es. »Laß mich deine Lenden trocknen …«
Ich schmetterte das Gerät mit einem wütenden Schrei gegen die Wand. Eines seiner Augen platzte, aus dem Mund quoll Blut. Wieder und wieder schlug ich ihn gegen die Kacheln, bis ich nur noch einen schlaffen, blutigen Klumpen in der Hand hielt. Melissa bemerkte ich erst, als ich in den Spiegel blickte und ihr Abbild hinter mir erkannte. Sie stand in der Badezimmertür und sah mich verstört an. Die braunen Locken, die sie unter der Perücke versteckt hatte, umflossen ihre Schultern. »Stan«, sprach sie unsicher. »Was tust du da?«
Ich wandte mich ihr schwer atmend zu, betrachtete dann den Apparat in meiner Hand. Kein Fleisch, kein Blut. Er bestand nur noch aus einem zerschmetterten Plastikgehäuse, aus dem Heizspiralen und Kabel hingen. Ich schluckte verlegen und deponierte die Überreste im Waschbecken. »Es geht schon wieder«, beruhigte ich Melissa. »Dieser Wonnedrink verursacht – Halluzinationen. Ich glaubte, etwas anderes in der Hand zu halten. Entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
»Das hast du aber. Bist du krank? Du bist noch nie ausgeflippt, nachdem du etwas getrunken hattest.« Ihre Augen verengten sich. Sie ging auf mich zu, hatte die Narben auf meiner Brust erkannt. »Du lieber Gott, Stan …«, flüsterte sie bestürzt, »wie ist denn das passiert?«
Ich kniff die Lippen zusammen, schwieg, suchte im Bad nach einem Grund, um sie von mir abzulenken. Melissa strich vorsichtig über die drei fingerdicken Wundmale, als fürchte sie, ihre Berührung könnte das Gewebe wieder aufbrechen lassen. »Hattest du die schon immer? War das ein Unfall?« Ihre Hand wanderte hinauf zu meiner rechten Schulter, betasteten auch dort die Narbe.
»Nein«, sagte ich. Es behagte mir nicht besonders, darüber zu sprechen. Ich schnappte mein T-Shirt, das neben dem Waschbecken auf dem Fußboden lag, und beeilte mich, es überzustreifen.
»Wer hat dir das angetan?« Melissas Gesicht war angespannt, eine Miene des Schauderns. »Ein Tier?«
Die drei Narben auf meiner Brust verliefen nahezu parallel von den Schlüsselbeinen hinab bis fast zum Unterbauch. Auf den ersten Blick konnte man sie tatsächlich für die Spuren einer Raubtierkralle halten. Es war jedoch kein Löwe oder Bär gewesen, der mich entstellt hatte …
»Nein, kein Tier«, antwortete ich, zog Melissas Hände weg und das Shirt über. »Ich möchte nicht darüber reden.« Bedeckt fühlte ich mich sofort wohler. Der Ausdruck aus Mitleid und Entsetzen blieb im Gesicht der Frau haften. Ich spürte, wie ihre Phantasie arbeitete und sie sich vorzustellen versuchte, was es gewesen und wie es geschehen sein mochte …
»Denk nicht daran«, sagte ich und nahm sie in den Arm. »Es ist schon eine Weile her.«
Melissa legte ihre Arme um mich und lehnte sich an meine Brust. »Was glaubst du, jetzt in den Armen zu halten?« wollte sie wissen.
»Im Augenblick noch dich …«
»Hmm. Daß du unter der Maske stecken würdest, hatte ich nicht
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