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Lord Gamma

Lord Gamma

Titel: Lord Gamma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Michael Marrak
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sie, einen Klumpen Cobalt 60 in den Schoß gelegt zu bekommen. Statt dessen zog ich den Downer aus der Jacke und nahm neben ihr Platz.
    »Was ist das?« fragte sie und hob eine Hand, um das zigarrenförmige Objekt zu berühren. »Ein Kugelschreiber?« Mitten in der Bewegung hielt sie inne. »Er ist bestimmt verstrahlt.« Sie ließ die Hand wieder sinken. Ihre Augen jedoch hingen am schwarz lackierten Metall.
    »Ich glaube, es ist so etwas wie ein Halsschmuck. Schau, so etwa …« Ich hob den Downer an ihren Nacken. Ein leises Zischen ertönte, als die Nadel herausschoß und ihr innerhalb eines Sekundenbruchteils das Betäubungsmittel injizierte. Melissa zuckte erschrocken zurück und griff sich an den Hals. Sie sah mich erstaunt an, murmelte: »Stan, was -?« und kippte nach hinten. Ich starrte auf ihren Venushügel, dann auf ihren ebenen Bauch. Melissa besaß keinen Nabel, ihr Bauch war glatt wie der aller Klone. Nur eine kreisrunde, blaßrote Narbe von der Größe einer Fünfzig-Cent-Münze prangte an seiner Stelle; das Mal der genetischen Information für eine Nabelschnur, für die es keinen Bedarf gegeben hatte. Ich legte Melissa bequem aufs Bett, deckte sie zu und zog mich an. Meine Hände zitterten.
     
    Auf dem Weg zurück in die Parkanlagen kreisten meine Gedanken um Gamma. Es erschien mir immer wahrscheinlicher, daß er es war, der seinen Einfluß auf diese Kolonie ausübte – ob zu meinen Gunsten oder Ungunsten, konnte ich nicht mit Bestimmtheit sagen. Seine Sabotageakte besaßen keinen logischen Zusammenhang. Selbst wenn er gewisse Dinge zu meinem Vorteil in die Wege geleitet hatte, mußte die Beseitigung des Wächters eine unerwartete Kettenreaktion bewirkt haben.
    Unsicheren Schrittes streifte ich durch die Klanggärten, traf Clemens wieder, der an einen Baum gelehnt döste, musterte mißtrauisch die kunstvoll dekorierten Pflanzen, ob nicht eine von ihnen dem Pflanzenwesen ähnelte, welches den Eingang bewachte, und suchte Prill.
    Ich fand sie nahezu in derselben verzauberten Stellung wie bei unserer ersten Begegnung. Sie stand neben einem von blauen Lichtschlangen erleuchteten Joshua-Baum (blau war ihre Lieblingsfarbe) und trug noch immer das weiße, seidig schimmernde Kleid. Ihre Hände hielt sie hinter ihrem Rücken gefaltet und schaute hinauf zum Dach des Arboretums, wo ein künstlicher Sternenhimmel flackerte. Aus im Baum verborgenen Lautsprechern erklang das Spiel einer Oboe. Niemand hielt sich in Prills Nähe auf. Ehe mich erneut ein lustwandelndes Paar stören konnte, war ich neben sie getreten. Falls sie über mein Auftauchen überrascht war, zeigte sie es nicht.
    Ich blickte ebenfalls zum Scheinhimmel empor. »Es ist eine Ironie, nicht wahr«, sagte ich. »Du siehst nach oben und erkennst: alles ist unendlich weit fort.« Prill schwieg und schaute unbeirrt in die Höhe. Sie schien mich tatsächlich nicht wahrzunehmen, machte aber auch keine Anstalten, fortzugehen. »Willst du wissen, was ich glaube?« fuhr ich mit meinem Monolog fort. »Ich glaube, die Welt ist vor vielen Jahren untergegangen, und wir haben es nicht gemerkt. Weißt du, was ich machen würde, wenn ich Gott wäre? Ich würde diese Welt zuscheißen! Und ich bin mir sicher, Gott hat genau das vor sehr langer Zeit getan. Sein Shit bedeckt uns kilometerhoch. Aber Gott ist Energie, und sein Shit ist Energie; negative, stinkende Energie. Wir sehen sie nicht, weil jeder von uns bemüht ist, seinen eigenen Scheiß loszuwerden.« Ich stellte mich Prill gegenüber. »Glaubst du nicht auch?«
    Zum ersten Mal zeigte sie eine Reaktion. Ihr Blick verließ das Sternenzelt und wanderte herab, bis er den meinen traf. »Ich – weiß es nicht …«, antwortete sie nach einer Ewigkeit mit dünner Stimme.
    Ich mußte schlucken. Prill erweckte den Eindruck, als sei sie völlig entrückt. In dieser Verfassung hatte ich sie noch nie angetroffen. Ihr Verhalten stand in krassem Gegensatz zu dem, was die Lords den Klonen – zumindest auf begrenztem Raum – gewährten: freien Willen und freie Entfaltung. »He, Kleines, wach auf!« drängte ich fast beschwörend.
    Prill wandte sich ab und lief davon, ohne ein Wort zu entgegnen. Ein zarter Gewebeschleier aus ihrem Haarknoten wehte wie ein Kometenschweif hinter ihr her. Ich ballte wütend die Hände zu Fäusten. Das war nicht Prill. Dieses Mädchen weilte nicht mehr auf dieser Welt. Was hatte der Lord mit ihr angestellt? War sie ihm etwa in seiner wahren Gestalt begegnet? Hatte sie den Verstand verloren

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