Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
Murbles, jetzt schildern Sie den Fall noch einmal, aber etwas genauer bitte, wenn es Ihnen nichts ausmacht.«
Mr. Murbles erklärte den Fall noch einmal. Er legte die Ahnentafel vor und wies auf den Punkt hin, der ein eventuelles Mordmotiv darstellte.
»Aha!« rief Mr. Towkington überaus vergnügt. »Das ist gut – sehr gut – Ihre Idee, Lord Peter? Sehr scharfsinnig. Viel zu scharfsinnig. Auf der Anklagebank im Old Bailey sitzen lauter Leute, die viel zu scharfsinnig sind. Ha! Mit Ihnen wird es demnächst ein schlimmes Ende nehmen, junger Mann. Wie? Ja – also, Murbles, die Frage dreht sich um die Interpretation des Wortes Nachkommenschaft – das haben Sie begriffen, wie? Ha! Ja. Und nun scheinen Sie also der Ansicht zu sein, es bedeute Nachkommenschaft ad infinitum. Wie kommen Sie denn bloß darauf, wie? Na bitte!«
»Ich habe nicht gesagt, daß ich das glaube«, widersprach Mr. Murbles vorsichtig. »Ich habe gesagt, daß ich es für möglich halte. Die allgemeine Absicht des Gesetzes scheint doch die zu sein, entfernte Verwandte, bei denen der gemeinsame Vorfahr weiter zurückliegt als die Großeltern, vom Erbe auszuschließen – aber doch nicht die Nachkommenschaft der Geschwister.«
»Absicht?« fuhr Mr. Towkington auf. »Ich muß mich über Sie wundern, Murbles! Das Gesetz hat nichts mit guten Absichten zu tun. Was besagt das Gesetz? Es heißt: ›An die leiblichen Geschwister und deren Nachkommen.‹ Und nun würde ich in Ermangelung einer neuen Definition sagen, daß hier das Wort so ausgelegt werden muß, wie es vor dem Gesetz bei Fehlen eines Testaments ausgelegt wurde – jedenfalls insoweit, als es sich auf persönlichen Besitz bezieht, was ja bei dem vorliegenden Problem der Fall ist, wenn ich recht verstehe, wie?«
»Ja«, sagte Murbles.
»Dann wüßte ich also nicht, wie Sie und Ihre Großnichte einen Fuß auf den Boden bekommen sollten – na bitte!«
»Entschuldigen Sie«, sagte Wimsey, »wenn es Ihnen nichts ausmacht – ich weiß, daß Laien furchtbar lästige Ignoranten sind –, aber wenn Sie die Güte haben und uns bitte erklären möchten, was dieses heimtückische Wort nun bedeutet oder einmal bedeutet hat – wissen Sie, das würde uns sehr helfen.«
»Ha! Also, das ist so«, begann Mr. Towkington gnädig.
»Bis 1837–«
»Königin Victoria, ich weiß«, sagte Peter verstehend.
»Ganz recht. Also, bis zu Victorias Thronbesteigung hatte das Wort ›Nachkommenschaft‹ noch keine juristische Bedeutung – nicht die allermindeste juristische Bedeutung.«
»Sie setzen mich in Erstaunen!«
»Sie lassen sich zu leicht in Erstaunen setzen«, sagte Mr. Towkington. »Viele Wörter haben keine juristische Bedeutung. Andere haben eine juristische Bedeutung, die sehr von ihrer sonstigen Bedeutung abweicht. Nehmen wir das Wort ›Schlafmütze‹ – ein harmloses Kleidungsstück, aber wenn Sie einen Richter so nennen, ist es eine strafbare Verunglimpfung, haha! Ich rate Ihnen dringend, einen Richter nie Schlafmütze zu nennen. Dann gibt es wieder Wörter, die in der Umgangssprache überhaupt nichts bedeuten, aber juristisch eine Bedeutung haben können. Zum Beispiel könnte ich zu einem jungen Mann wie Ihnen sagen: ›Sie möchten also den oder jenen Besitz dem oder dem vermachen.‹ Und Sie würden ziemlich sicher antworten: ›Ja, unbedingt‹ – was gar nichts weiter zu bedeuten hat. Wenn Sie aber in Ihr Testament schreiben: ›Ich hinterlasse dem Soundso dies oder das unbedingt ‹, dann hat das Wörtchen ›unbedingt‹ eine ganz bestimmte juristische Bedeutung, die Ihr Legat in einer bestimmten Weise qualifiziert und sich sogar sehr unangenehm auswirken kann, indem es Folgen hat, die von Ihren eigentlichen Absichten weit entfernt sind. Ha! Verstanden?«
»Völlig.«
»Sehr schön. Also, bis 1837 bedeutete das Wort ›Nachkommenschaft‹ überhaupt nichts. Ein Vermächtnis an ›A und seine Nachkommenschaft‹ gab nur dem A ein lebenslanges Besitzrecht. Ha! Aber das wurde durch das Testamentsgesetz von 1837 geändert.«
»Soweit es ein Testament betraf«, warf Mr. Murbles dazwischen.
»Genau. Ab 1837 bedeutete ›Nachkommenschaft‹ in einem Testament also ›leibliche Nachfahren‹ – das heißt, Nachkommenschaft ad infinitum. Bei einer Schenkung dagegen behielt das Wort ›Nachkommenschaft‹ seine alte Bedeutung – beziehungsweise Bedeutungslosigkeit, wie? Ha! Können Sie folgen?«
»Ja«, sagte Mr. Murbles, »und bei der Vererbung persönlichen Besitzes ohne
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