Lord Peter 03 - Keines natürlichen Todes
gekannt.«
»Miss Climpson«, sagte Parker feierlich, »Sie sind eine wundervolle Frau, und meinetwegen hätten Sie mich sogar Marmaduke nennen dürfen.«
Ja, und nun war Parker hier, um den zweiten Teil seiner Ermittlungen durchzuführen. Wenn Miss Whittaker nicht zu einem der Anwälte in Leahampton gegangen war, zu wem würde sie dann gehen? Natürlich wäre da noch Mr. Probyn gewesen, aber daß sie sich ihn ausgesucht haben würde, glaubte er nicht. Gewiß hatte sie ihn in Crofton nie kennengelernt – sie hatte ja nie wirklich bei ihren Großtanten gewohnt. Zum erstenmal begegnet war sie ihm an dem Tag, an dem er nach Leahampton gekommen war, um Miss Dawson zu besuchen. Damals hatte er ihr den Zweck seines Besuches nicht anvertraut, aber sie mußte aus dem, was ihre Tante danach gesagt hatte, geschlossen haben, daß es um die Abfassung eines Testaments gegangen war. Im Lichte dessen, was sie seit neuestem wußte, mußte sie sich gedacht haben, daß Mr. Probyn dabei das neue Erbrecht im Sinn gehabt, sich aber außerstande gesehen hatte, ihr dies anzuvertrauen. Hätte sie ihn jetzt gefragt, wäre seine Antwort wahrscheinlich gewesen, Miss Dawsons Angelegenheiten seien nicht mehr in seiner Hand und sie solle sich an Mr. Hodgson wenden. Außerdem hatte sie sich wahrscheinlich überlegt, wenn sie Mr. Probyn diese Frage stellte und es passierte dann etwas, würde er sich womöglich daran erinnern. Nein, nein, zu Mr. Probyn war sie sicher nicht gegangen.
Zu wem dann?
Für den, der etwas zu verbergen hat – der seine Identität verlieren will wie ein Blatt unter den Blättern eines Waldes –, der nichts weiter verlangt, als vorüberzugehen und vergessen zu werden, für den gibt es vor allem anderen einen Namen, der einen Hafen der Geborgenheit und des Vergessens verheißt: London. Wo keiner seinen Nachbarn kennt. Wo die Geschäfte ihre Kunden nicht kennen. Wo Ärzte plötzlich zu Patienten gerufen werden, die sie nie gesehen haben und nie wiedersehen werden. Wo man monatelang tot in seinem Haus liegen kann und niemand einen vermißt oder findet, bis der Gasmann
kommt und den Zähler ablesen will. Wo Fremde freundlich und Freunde flüchtig sind. London, das an seinem reichlich unsauberen und verlotterten Busen so manches Geheimnis birgt. Verschwiegenes, gleichgültiges, alles umhüllendes London.
Nicht, daß Parker sich das so gesagt hätte. Er dachte nur: Zehn zu eins, daß sie es in London versucht hat. Dort glauben die meisten sicher zu sein.
Miss Whittaker kannte natürlich London. Sie hatte am Royal Free Hospital gelernt. Das hieß, daß sie von allen Stadtteilen wahrscheinlich Bloomsbury am besten kannte. Denn niemand wußte besser als Parker, wie selten ein Londoner seinen angestammten kleinen Lebenskreis verläßt. Falls man ihr während ihrer Zeit am Krankenhaus nicht irgendwann einmal einen Anwalt in einem anderen Londoner Stadtteil empfohlen hatte, bestand die größte Wahrscheinlichkeit, daß sie zu einem Anwalt in Bloomsbury oder Holborn gegangen war.
Zu Parkers Unglück wimmelte es gerade in dieser Gegend nur so von Anwaltsbüros. Ob Gray’s Inn Road, Gray’s Inn selbst, Bedford Row, Holborn, Lincoln’s Inn – überall wucherten die Messingschilder wie die Brombeeren.
Das war’s, warum Parker an diesem Juninachmittag so erhitzt und müde war und so die Nase voll hatte.
Mit lustlosem Knurren schob er seinen eigelbbeschmierten Teller von sich, ging »bitte-an-der-Kasse-zahlen« und überquerte die Straße in Richtung Bedford Row, die er sich als sein Pensum für den Nachmittag vorgenommen hatte.
Er begann mit der ersten Praxis, an der er vorbeikam. Es handelte sich um das Büro eines Mr. J. F. Trigg, und Parker hatte Glück. Der junge Mann im Vorzimmer teilte ihm mit, Mr. Trigg sei soeben vom Mittagessen zurück und habe Zeit für ihn. Ob er nicht bitte nähertreten möchte?
Mr. Trigg war ein angenehmer Mensch von Anfang Vierzig mit jugendlichem Gesicht. Er bot Mr. Parker einen Platz an und fragte, was er für ihn tun könne.
Und Parker begann zum siebenunddreißigsten Male mit der Einleitung, die er sich für seine Erkundigungen zurechtgelegt hatte.
»Ich bin nur vorübergehend in London, Mr. Trigg, und da ich juristischen Rat brauche, wurden Sie mir von einem Mann empfohlen, den ich zufällig in einem Restaurant kennengelernt habe. Er hat mir auch seinen Namen genannt, aber der ist mir leider entfallen, und er tut ja auch nichts zur Sache, wie? Es geht um folgendes: Meine Frau und ich
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