Lord Schmetterhemd im wilden Westen
seine
scharfen Ohren: er lernte die Geräusche der Wildnis unterscheiden, das Heulen
des Windes, die Schritte der Tiere, die Stimmen der Vögel. Und Tante Turkie verblüffte
uns durch die Schärfe ihrer Augen. Sie vermochte einen Käfer aus hundert Meter
Höhe zu erkennen. Wozu brauchte sie eigentlich die Stielbrille? Offenbar nur,
um sich ein interessanteres Aussehen geben zu können. Nun, es stand ihr!
Zirkus-Joe
und Little-Byrd begleiteten uns meist. Manchmal dienten mir die beiden in ihrer
Western-Kleidung als wirkungsvoller Vordergrund für eine Fotografie. Eine
Aufnahme ohne Menschen hat nun mal kein Zeit-Kolorit. Onkel Rab ließ dann kein
Kaninchenauge von Little-Byrd. Sie sah ja auch überaus reizend aus. Und sogar
Onkel Berni stellte sich oft in einer Weise neben sie, daß sie gar nicht anders
konnte, als ihm den Hundehals zu kraulen.
Ich
fragte mich oft, wieso diese Tiere nicht mehr Verwunderung erregten. Offenbar
waren die Zirkusleute von vorneherein an die seltsamsten Dinge gewöhnt.
Übrigens
lernte ich später, daß im Wilden Westen grundsätzlich alles für möglich
gehalten wurde. Vor allem die Indianer hatten ein äußerst natürliches
Verhältnis zu Tieren mit menschlichen Eigenschaften.
Eines
unguten Tages befanden wir uns weit in der Prärie, als Onkel Rab die Löffel
spitzte, sie durch die Löcher in der Krempe seines Strohhutes in die Richtung
der Fliegenden Wolke drehte und zeterte: »Da ist etwas nicht geheuer!« Wir
ließen alles liegen oder fallen, was uns hinderlich gewesen wäre, fegten,
hoppelten, flatterten oder rannten — da bot sich uns kein erfreulicher Anblick.
Mein
Dampfer trieb in der Strömung. Ganz langsam, noch war er erst wenige Meter vom
Ufer entfernt. Und an der Reling stand...
»Der
Tödliche Colt !« rief Zirkus-Joe und erblich.
Mein
Onkel Rab schlotterte am ganzen Kaninchenkörper: »Der Große Koyote !«
Mein Freund, der Häuptling
Nun
war jede Sekunde kostbar. Der vierschrötige Kerl legte seine Donnerbüchse auf
uns an. Neben ihm fletschte jener gräßliche Hund seine Zähne, den wir daheim
schon mehr als einmal gesehen hatten. Da waren offenbar zwei Richtige
zusammengekommen.
Was
tun? Der Zwischenraum vergrößerte sich schnell. Meine Fliegende Wolke
verwandelte sich in eine Dahintreibende Wolke. Dahin — auf Nimmerwiedersehen?
Ich
wollte mich ins Wasser stürzen. »Zurück, Mister, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist !« brüllte der Gauner.
Mein
Leben war mir schon lieb! Dennoch...
»Den
mache ich fertig«, krähte Tante Turkie.
»Ich
übernehme den feigen Koyoten«, knurrte Onkel Berni. Onkel Rab versteckte sich —
ungern gestehe ich’s — hinter den Röcken von Little-Byrd. Vielleicht benutzte
er nur einen Vorwand, um ihr ganz nahe zu sein?
Der
Große Koyote heulte auf und fletschte die Zähne. Onkel Berni stürzte sich ins
Wasser. Der Tödliche Colt legte auf ihn an. Doch Tante Turkie war schneller.
Sie stieg senkrecht in die Luft. Sie flog wie eine Granate auf ihn zu. Da riß
er die Büchse hoch. Da krachte sein Schuß. Da stürzte Tante Turkie senkrecht
wie ein Stein vor ihm aufs Deck.
Er
schrie: »Hah !« und rannte zu ihr. Er brüllte: »Der
Vogel muß erst noch geboren werden, der meiner Kugel entkommt .« Mir krampfte sich das Herz zusammen, und ich hörte Cookie aufstöhnen: »Ach,
Mylady 21 ...«
Der
Tödliche Colt bückte sich, um die ins Jenseits beförderte Truthenne aufzuheben.
»Danke für den Braten«, grölte er. Dann schreckte er auf. Ein röchelnder
Schrei. Er stolperte so schnell, so blindlings zurück, daß er über das Geländer
fiel — in den Strom.
Dabei
hatte Tante Turkie — die vermeintliche Leiche — doch nur kurz ihre Stielbrille
an die Augen gehoben und ihn mit einem stechenden Blick gemustert. Vielleicht
spiegelte sich die untergehende Sonne im Glas, so daß es wie Funken sprühte. Da
schwamm er nun um sein Leben, unser Feind. Und Onkel Berni kletterte rasch über
die Schaufelräder auf Deck. Dort stand er in ganzer, furchteinflößender Größe
und zog die Lippen über dem Gebiß hoch... Ein dumpfes Grollen kam aus seinem
Brustkorb... der Große Koyote kniff den Schwanz ein. Ein Satz: er folgte seinem
neuen Freund.
Von
denen hatten wir heute wohl nichts mehr zu befürchten. Jetzt, da sich unser
bewährter Steuermann wieder an Bord befand, war auch die Fliegende Wolke für
uns gerettet. Onkel Berni lenkte das Schiff an eine flache Stelle, etwas weiter
flußabwärts. Die Flüchtlinge aber erreichten
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