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Lord Schmetterhemd im wilden Westen

Lord Schmetterhemd im wilden Westen

Titel: Lord Schmetterhemd im wilden Westen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Max Kruse
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wanderten meine Augen hinauf zu meinem Hotelzimmer. Da glaubte
ich, einen Schatten hinter dem Vorhang zu bemerken.
    Leider
maß ich dem keine Bedeutung bei. Meine ganze Aufmerksamkeit war ja auch in
Anspruch genommen von den Vorbereitungen, die ich für meine Fotoaufnahmen zu
treffen hatte. Ich richtete das Objektiv der Kamera aus dem geöffneten Fenster
auf das Seil mit den zierlichen Ballettschuhen. Ich wollte alles scharf
eingestellt haben, ehe Little-Byrd es betrat. Denn dann blieb mir keine Zeit
mehr zu irgendwelchen Handgriffen, obwohl Little-Byrd mir versprochen hatte,
besonders lange in ihrer Schlußfigur zu verharren. Aber ich wollte sie nicht
zusätzlich gefährden.
    So
schnell, daß es an Zauberei grenzte, hatte Zirkus-Joe die weiße Schminke aus
seinem Gesicht gewischt und das gestreifte Clownshemd mit einem schwarzen Frack
vertauscht. Statt der Ziehharmonika und der Pauke erschien er mit einer
blitzenden Trompete.

Der sterbende Schwan
     
    Zirkus-Joes
Fanfare schmetterte. Danach kündigte er Little-Byrds Nummer ernsthaft und fast
feierlich an: »Und jetzt, meine Damen und Herren, Große und Kleine, erbitte ich
Ihre geschätzte Aufmerksamkeit für eine außergewöhnliche Künstlerin, deren Ruhm
trotz ihrer Jugend im alten Erdteil Europa bereits alles überstrahlt! Sie wird
Sie mit ungewöhnlichen Kunststücken erfreuen — eine Darbietung von
einzigartiger Schönheit. Schwebend, als ginge sie über dem Nichts, wird
Little-Byrd auf dem messerscharfen Drahtseil tanzen. Beachten Sie die Schuhe,
die unter dem Seil hängen! Jeden einzelnen hat Little-Byrd bereits durchgetanzt !« Ein nochmaliger Tusch auf der Trompete, und dann tänzelte
Littel-Byrd aus dem Hotel.
    Sie
sah allerliebst aus. Sehr ernst war ihr Gesichtsausdruck, die braunen Haare
lagen lockig um ihr Köpfchen. Ein knappes weißes Leibchen umschloß den zarten
Oberkörper, und wie eine hängende, sich öffnende Blüte spreizte sich der kurze
Ballettrock in der Höhe ihrer Knie.
    Nicht
nur unten auf dem Platz klatschte man: Onkel Berni klopfte mit dem Pfeifenkopf
auf das Fensterbrett, Onkel Rab warf ihr Dutzende von Kußpfötchen zu, sogar
Tante Turkie kollerte beifällig, und Cookie Pott strahlte über sein rundes
Gesicht. Ich versuchte, in aller Eile eine Aufnahme zu machen. Leider verwackelte
ich sie.
    Zirkus-Joe
spielte einen Marsch. Little-Byrd schritt zum Galgenbaum, an dessen Stamm eine
Leiter lehnte. Leichtfüßig stieg sie empor. Leichtfüßig stellte sie den ersten
Fuß mit den Zehenspitzen auf das Seil und probierte seine Festigkeit aus. Mit
der einen Hand hielt sie sich an einem Ast fest, die andere stützte sie in die
Hüfte.
    »Man
hätte ein Netz aufspannen sollen«, knurrte Onkel Berni. »Ach«, seufzte Onkel
Rab, »es wird ihr doch nichts passieren ?« Ich wette,
er vergaß in diesem Moment, daß sich unter den Zuschauern eine andere Schönheit
mit Namen Millie Miller befand.
    Jetzt
änderte Zirkus-Joe den Rhythmus — aus dem Marsch wurde ein Walzer.
    Das
Publikum schwieg gebannt. Little-Byrd betrat das Seil. Mit ausgebreiteten Armen
stellte sie einen Fuß vor den anderen, wippte, ging weiter, beschrieb mit der
Fußspitze Figuren in der Luft, glich die Bewegungen des Seiles durch geschickte
Gegenbewegungen des Oberkörpers aus, tat wohl auch einmal so — zur Erhöhung der
Spannung —, als verlöre sie das Gleichgewicht, lächelte, erreichte die Mitte
des Seiles und ließ nun einen Fuß sehr langsam nach vorne rutschen, den zweiten
nach hinten, bis beide gespreizte Beine ganz auf dem Seil ruhten — im Spagat —
und dann beugte sie den Oberkörper mit weit ausgestreckten Armen vor, um mit
dem Kopf in der Figur eines sterbenden Schwanes das Knie zu berühren. Das war
die Stellung, die wir vereinbart hatten, jetzt wollte ich meine Aufnahme
machen. Little-Byrd hielt sich ruhig, kaum die kleinste Schwankung — fieberhaft
war ich am Apparat tätig...
    ...
da knallte ein Schuß! Er peitschte in die atemlose Stille. Das Seil zerfetzte,
haarscharf durchgetrennt.

    Little-Byrd
stürzte — ein Aufschrei. Doch glücklicherweise, durch viele Proben auch im
Fallen geübt, riß sie ihre Beine geistesgegenwärtig zusammen, kam so auf den
Boden, knickte gleichwohl zur Seite, schrie auf, lag da wie eine zu Boden
geschleuderte Blume. Auf dem Platz herrschte zuerst gelähmtes Schweigen,
Entsetzen. Dann ein wildes Durcheinanderrufen, weniger hilfreich als
zusätzliche Verwirrung schaffend. Die einen liefen zu Little-Byrd, die anderen
suchten den

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