Lord Stonevilles Geheimnis
der erstbesten Gelegenheit das Weite gesucht.«
»Sie ist gegangen, weil sie befürchtet, dass sie nicht in der Lage sein wird, dir zu widerstehen. Sie kann nicht in deiner Nähe sein, ohne dir zu erliegen. Du hättest doch merken müssen, dass sie sich deinetwegen selbst nicht mehr über den Weg traut.«
Oliver wollte sich von ihren Worten nicht beeindrucken lassen. »Wie auch immer, sie hat mich verlassen. Ich werde ihr nicht wie der letzte Trottel hinterherrennen.«
»Dann willst du sie also einfach ihrem amerikanischen Verlobten überlassen?«, fragte seine Großmutter.
Sie wollte seine Eifersucht schüren – wieder so ein Trick. Und leider hatte sie damit auch Erfolg.
Er biss die Zähne zusammen. »Wenn sie Hyatt will, kann ich nicht …« Er stutzte und sah sie prüfend an. »Woher weißt du das mit ihrem Verlobten?«
»Minerva hat es mir erzählt.«
»Natürlich!« Er leerte sein Glas und stellte es auf dem Schreibtisch ab. »Niemand in diesem verfluchten Haus kann ein Geheimnis für sich behalten.«
»Außer dir.«
»Fang nicht wieder damit an«, knurrte er.
»Warum nicht? Es ist der Grund dafür, dass du einfach zuschaust, wie Maria hinter irgendeinem dusseligen Amerikaner herläuft. Macht es dir denn gar nichts aus?«
»Nein«, log er, obwohl ihm übel wurde bei dem Gedanken, dass Maria sich mit diesem Hyatt einließ. »Sie hat ihre Entscheidung getroffen, und ich muss sie akzeptieren.«
»Und dass sie kein Geld zum Reisen hat, macht dir keine Sorgen?«
»Ich bin sicher, sie war so klug, die Perlenkette zu verkaufen, die ich ihr geschenkt habe.«
»Das hat sie nicht getan. Sie hat sie hiergelassen.« Seine Großmutter humpelte zum Schreibtisch und legte die Samtschatulle neben die Brandykaraffe. »Sie sagte, sie habe kein Anrecht darauf.«
Oliver starrte die Schatulle an. Wie hatte Maria ohne finanzielle Mittel abreisen können? Seine Geschwister mussten ihr etwas gegeben haben, aber viel konnte es nicht gewesen sein. Also musste sie mit einer Postkutsche gefahren sein. Ihm blieb fast das Herz stehen bei dem Gedanken, dass Maria und Freddy ohne Schutz reisten. So waren sie leichte Beute für Betrüger und Taschendiebe und skrupellose Gastwirte, von Straßenräubern ganz zu schweigen.
»Was kümmert mich das?«, sagte er, aber ihm war nicht ganz wohl dabei. Es fiel ihm immer schwerer, den Gleichgültigen zu spielen.
»Dann kümmert es dich wohl auch nicht, dass sie und Freddy mit Mr Pinter weggefahren sind. Er bringt sie zu ihrem Verlobten.«
»Einen Teufel tut er!«, rief Oliver, doch als er das triumphierende Funkeln in den Augen seiner Großmutter sah, verfluchte er sein aufbrausendes Temperament. »Du lügst!«
Sie sah ihn nur schweigend an und zog eine Augenbraue hoch.
Oliver stürzte in den Korridor und rief mit barscher Stimme nach Minerva.
Einen Augenblick später kam sie auch schon die Treppe herunter. »Was ist?«, fragte sie, als sie auf ihn zueilte.
»Wie ist Maria von hier weggekommen?«
Minerva schaute unsicher von Oliver zu ihrer Großmutter. »Sie ist mit Mr Pinter gefahren. Er hat ihr angeboten, sie und Freddy mitzunehmen, und es klang nach einer längeren Reise. Es war wirklich sehr freundlich von ihm …«
»Der verdammte Mistkerl!«
»Er ist ein Gentleman«, warf die Großmutter ein. »Bei ihm dürfte sie gut aufgehoben sein.«
»Ein Gentleman. Sicher.« Oliver malte sich aus, wie Pinter ihn die ganze Fahrt über in den schwärzesten Farben beschrieb, von seinen übelsten Verfehlungen berichtete und Maria gegen ihn aufbrachte …
Warum zum Teufel kümmerte es ihn überhaupt? Sie war gegangen und kehrte nicht zurück. Es konnte ihm egal sein, was sie von ihm dachte.
Aber es war ihm nicht egal.
Schlimmer noch war allerdings, dass Pinter gern den edlen Ritter spielte, und edle Ritter waren ihren höflichen, galanten Worten zum Trotz ebenso empfänglich für die Reize einer schönen Frau wie jeder andere Mann. Und wenn Pinter Geld und Zeit dafür aufwendete, Maria Gott weiß wohin zu bringen – ganz zu schweigen davon, dass er ihr sein Honorar erlassen hatte –, dann erwartete er sicherlich eine Gegenleistung von ihr.
Maria war im Augenblick sehr verwundbar, verwirrt und aufgewühlt. Also hatte Pinter leichtes Spiel, wenn er nun stundenlang, ja vielleicht tagelang, mit ihr in einer Kutsche saß und dieser Dummkopf Freddy der Einzige war, der ihm Einhalt gebieten
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