Lord Stonevilles Geheimnis
diesen Schwur tatsächlich ernst nehmen würde.
Ein Muskel in seiner Wange zuckte. Dann nickte er. »Ich schwöre beim Grab meiner Mutter, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um Ihren Verlobten zu finden. Und dass Sie in zwei Wochen gehen können, wohin Sie wollen.«
»Also schön«, sagte sie und atmete erleichtert aus. »Dann nehme ich Ihr Angebot an.«
»Gut. Warten Sie hier.« Er öffnete die Tür und rief nach jemandem. Kurz darauf kam ein stämmiger Mann herein. »Passen Sie auf die beiden auf, bis ich zurückkomme«, befahl Lord Stoneville, dann verschwand er im Korridor.
Als ihr Bewacher sie beäugte, als wäre sie ein besonders saftiges Bratenstück, kehrte Maria ihm den Rücken zu und versuchte, nicht darüber nachzudenken, was ihnen alles passieren konnte, nachdem sie sich in die Hände eines durch und durch unmoralischen Lords begeben hatten. Sie verdrängte die Erinnerung an die grausigen Romanszenen, in denen böse Schurken den Frauen, die sie in ihren Häusern gefangen hielten, schändliche Dinge antaten.
Worum es sich dabei handelte, beschrieben die Bücher zwar nur recht vage, aber was sie aussparten, hatte Maria sich zusammengereimt. Ihre bodenständige Tante hatte ihr einiges über die Vereinigung von Mann und Frau im Schlafgemach erzählt, und man brauchte nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, wie ein Schuft wie Lord Rockton zwischen den Beinen einer Frau lag und ihr seinen Willen aufzwang.
Oder ein Schuft wie Lord Stoneville.
Freddy trat an ihre Seite und warf einen verstohlenen Blick auf ihren Bewacher. »Stoneville scheint doch ein recht anständiger Kerl zu sein«, raunte er ihr zu.
Sie wäre beinahe in hysterisches Gelächter ausgebrochen. »Oh ja, er ist der Anstand in Person! Wir haben ihn in einem Bordell kennengelernt, und er zwingt uns durch Erpressung dazu, seine Großmutter zu täuschen.«
»Immerhin übergibt er uns nicht dem Constable. Und er hat für dich in Erfahrung gebracht, was es mit der Tasche auf sich hat. Er hätte uns ins Zuchthaus werfen lassen können, kaum dass mein Schwert auf dem Boden lag.«
Wohl wahr. Er hatte sie angehört, obwohl er es nicht hätte tun müssen. Doch das lag nur daran, dass sie sich »hervorragend für sein Vorhaben eignete«.
Die Tür ging auf, und Lord Stoneville kehrte zurück. Er hatte diverse Kleidungsstücke auf dem Arm und nickte dem stämmigen Mann zu, der prompt den Raum verließ.
Lord Stoneville warf ein rotes Kleid und einige andere Dinge auf das Sofa. »Sie müssen sich umziehen. Sie können keine Trauerkleidung tragen, wenn ich Sie meiner Großmutter vorstelle. Es würde Fragen zu Ihrer Situation aufwerfen, und ich möchte verhindern, dass sie uns gleich zu Anfang auf die Schliche kommt.«
Misstrauisch sah Maria sich an, was er mitgebracht hatte. Die weißen Handschuhe, die Strümpfe und die Haube aus weißem Crêpe, eingefasst von rotem Satin und mit den passenden Satinbändern, waren recht ansehnlich, aber das Kleid war gelinde gesagt geschmacklos. Es war aus billiger Seide und hatte einen unverschämt tiefen Ausschnitt. »Sie können nicht erwarten, dass ich das hier anziehe.«
»Polly meinte, es müsse passen. Sie haben ungefähr die gleiche Größe wie eins ihrer Mädchen.«
Eins ihrer Mädchen? Polly war also die Bordellbesitzerin. Da war es natürlich kein Wunder, dass er so gut mit ihr stand.
»Der Rest ist in Ordnung«, sagte Maria, »aber das Kleid ist skandalös.«
»Etwas anderes konnte ich so kurzfristig nicht bekommen«, erwiderte er. »Morgen besorgen wir Ihnen neue Kleider, aber jetzt ziehen Sie das hier an.«
Seine herrische Art empörte sie zwar, doch sie wagte es nicht, sich mit ihm anzulegen. Erst einmal mussten sie und Freddy heil aus diesem Bordell herauskommen.
Er sah sie ungeduldig an. »Was ist? Nun ziehen Sie sich schon um!«
»Dazu müssen Sie und Freddy den Raum verlassen!«, entgegnete sie.
»Tut mir leid, meine Liebe. Ich kann Freddy unmöglich nach draußen in den Korridor schicken, wo unsere Freunde warten. Am Ende überdenken sie ihre Entscheidung, ihn gehen zu lassen, noch einmal. Und ich kann Sie beide nicht hier allein lassen, sonst flüchten Sie noch durch das Fenster.« Er sah sie schräg an. »Glauben Sie mir, ich habe schon mehr Frauen in Korsett und Unterkleid gesehen, als Sie Lenze zählen.«
»Das glaube ich nur zu gern.« Maria rümpfte die Nase. »Drehen Sie sich wenigstens um.«
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