Lord Stonevilles Geheimnis
ernst. Ganz zu schweigen davon, dass er denken würde, dass sie mit Oliver … intim war. Vor allem wenn Oliver ihr ständig solche lodernden Blicke zuwarf.
Sie schluckte. Nathan hatte sie stets mit freundschaftlichen Blicken betrachtet, während Oliver ihr das Gefühl gab, splitternackt zu sein, wenn er seine dunklen Augen über ihren Körper schweifen ließ. Zu ihrem Entsetzen störte es sie nicht halb so viel, wie es sie hätte stören sollen.
Und dann waren da noch seine berauschenden Küsse. Ihr wurde ganz heiß, als sie sich an seine weichen Lippen und die unerhörten Dinge erinnerte, die er mit seinem warmen Mund angestellt hatte, und sie bekam sofort wieder weiche Knie. Du lieber Himmel, warum konnte sie nicht aufhören, daran zu denken? Sie hatte sich die halbe Nacht hin und her gewälzt und jeden Augenblick in Olivers Armen nochmals durchlebt. Einfach lächerlich! Es bedeutete ihm gar nichts. Und ihr sollte es auch nichts bedeuten. Sie hatte schließlich einen Verlobten!
Einen Verlobten, der sie noch nie so geküsst hatte.
Als sie das Gesicht verzog, sagte Betty: »Es ist wirklich eine Schande, was mit Ihren Kleidern passiert ist, Miss. Lady Minerva hat uns von dem Sturm auf See erzählt, der sogar das Kleid ruiniert hat, das Sie am Leib trugen. Ich finde, das Kleid, das Ihnen der Schneider geliehen hat, ist nicht viel besser.«
Maria biss sich auf die Lippen. Lady Minerva war wirklich sehr versiert im Erfinden von Geschichten. Nun musste sie allerdings noch herausfinden, welchen Grund Olivers Schwester dafür angegeben hatte, dass ihr ein Schneider ein Kleid geliehen hatte. Betty konnte sie ja schlecht fragen.
»Lady Celia sagte, Sie könnten ihren gestrickten Schal zu Ihrer Redingote tragen, wenn Sie möchten. Sie sagte, Sie hätten ganz verfroren ausgesehen, als Sie gestern ankamen.«
Maria stiegen die Tränen in die Augen. Olivers Schwestern waren so nett und hilfsbereit! Sie hatte keine Schwestern, und es rührte sie sehr, dass die beiden sie wie eine solche behandelten. »Seien Sie bitte so gut, und richten Sie ihr meinen Dank aus.«
»Selbstverständlich, Miss.« Es folgte ein langes Schweigen, denn Betty konzentrierte sich darauf, ihr den Zopf kranzförmig auf dem Kopf festzustecken. Nach einer Weile sagte sie: »Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, Miss.«
»Ja, sehr gut«, log Maria.
»Das Bett ist Ihnen nicht zu hart?«
Im Vergleich zu ihrem Bett zu Hause war es samtweich. »Nein, gar nicht.«
»Ich weiß, es riecht etwas muffig, aber wir hatten gestern keine Zeit mehr, ordentlich zu lüften. Heute Nacht wird es schon besser sein.«
Maria hätte beinahe gelacht. Was konnte man an einem Raum, der einer Prinzessin würdig war, noch verbessern?
Das Inventar war uralt. Die Bettwäsche war am Rand ausgefranst, die Stühle knarrten, wenn man sich daraufsetzte, die Bezüge waren reichlich verschlissen, und das ganze Silber im Raum war schwarz angelaufen.
Aber um Gottes willen, es war Silber! Silberne Rahmen, silberne Wandleuchter, ein silberner Spiegel mit dazu passendem Toilettentisch, der ebenfalls mit echtem Silber verziert war. Die bestickten Behänge an dem riesigen Himmelbett waren aus rotem Samtbrokat, mit Kordeln aus silbernem und goldenem Garn als Raffhaltern, und jeder Zentimeter Holz war einst dick vergoldet gewesen. Selbst der verblichene Teppich bestach durch eine kunstvoll eingewebte höfische Szene. Er musste ursprünglich für einen Gast von weit höherem Stand gedacht gewesen sein.
Hatte Mrs Plumtree sie deshalb in diesem Raum untergebracht? Um sie einzuschüchtern? Oder hatte sie gedacht, er unterstreiche das, was sie über Olivers schwierige Finanzlage gesagt hatte?
Mrs Plumtree wusste natürlich nicht, dass Maria nur zu gern in der englischen Version eines heruntergekommenen Hauses leben würde, wenn es so aussah. Sie liebte es schon jetzt. Es war wunderschön und zugleich etwas unheimlich, morsch und zugleich majestätisch und imposant, wie eine große alte Dame, deren Schönheit nie verblasste. Nun wusste sie, wie es Lady Minerva gelang, solche Häuser in ihren Büchern so lebendig darzustellen: Sie wohnte in einem.
»Sie freuen sich bestimmt sehr darauf, Seine Lordschaft zu heiraten«, sagte Betty.
Es war nicht die erste Äußerung, mit der sie versuchte, mehr über die plötzliche Verlobung zu erfahren. Du liebe Güte, die Bediensteten waren wirklich sehr neugierig. Es machte Maria nervös, da sie nicht
Weitere Kostenlose Bücher