Lord Stonevilles Geheimnis
sie patzig zurück.
Oliver runzelte die Stirn. »Seit ich mich gezwungen sehe, wieder hier zu wohnen.« Als sie ihn nachdenklich ansah, fügte er bitter hinzu: »Aber glaub nicht, es hätte irgendetwas zu bedeuten. Ich mag nur einfach keine Zugluft und will nicht, dass sich meine Diener die Haxen brechen, denn dann könnten sie mir ja nicht mehr dienen.«
»Natürlich, Bruderherz.« Minerva blitzte der Schalk aus den Augen. »Du bist schließlich ein reueloser und ganz und gar verantwortungsloser Schurke.«
»Und du tätest gut daran, das nicht zu vergessen!«, knurrte er voller Verärgerung darüber, dass sie ihn partout nicht ernst nehmen wollte.
»Wie könnte ich es vergessen, wo du dir doch alle Mühe gibst, uns in einem fort daran zu erinnern?«
»Verdammt, Minerva …«
»Ich weiß, ich weiß. Du bist mein furchterregender großer Bruder und so weiter.« Sie winkte ihm fröhlich zu. »Ich gehe jetzt ins Bett. Bring dich bis morgen früh nicht allzu sehr in Schwierigkeiten!«
Als sie lachend den Speisesaal verließ, musste er unwillkürlich grinsen. Gott möge dem Mann beistehen, der Minerva bezähmen wollte, dachte er. Sie wird ihn bei lebendigem Leibe verspeisen und sich hinterher genüsslich die Finger lecken.
Aber sie hatte ihn an etwas erinnert: Er musste die Bücher durchgehen, bevor er sich mit den Pächtern traf. Er trat in den Korridor. Als er Gelächter aus dem Herrensalon hörte, hielt er inne. Seine Pflichten zogen ihn eigentlich in die andere Richtung, in sein Arbeitszimmer.
Er wurde nachdenklich. So fing es an: Zunächst kümmerte er sich nur um ein paar Kleinigkeiten, doch dann würde es immer mehr werden, bis ihn eines Tages das Haus und alles, wofür es stand, fest im Griff hatten. Und dann würde er wie sein Vater werden: Er würde bereit sein, alles zu tun und irgendeine Frau zu heiraten, nur um das verfluchte Gut am Laufen zu halten.
Nein, verdammt! Er würde sich von den Geistern von Halstead Hall nichts aufzwingen lassen. Die Bücher konnten bis morgen warten. Ein nächtliches Trinkgelage und eine kleine Pokerpartie waren genau das, was er jetzt brauchte.
Da kam ihm plötzlich in den Sinn, was seine Großmutter gesagt hatte: »Du hast etwas Besseres verdient als das sinnlose Leben, das du jetzt führst, Oliver.«
Ihm entfuhr ein ersticktes Lachen. Seine Großmutter irrte sich. Er wusste nicht, wie er sich bessern konnte – ohne seine Seele auf dem Altar der Ehrbarkeit zu opfern.
Und das würde er niemals tun, um keinen Preis!
10
An ihrem ersten Morgen auf Halstead Hall stand Maria vor dem angelaufenen silbernen Spiegel in ihrem Schlafgemach und zupfte an dem Oberteil des scheußlichen roten Kleides herum.
»Können Sie denn gar nichts gegen den tiefen Ausschnitt tun, Betty?«, fragte sie das Dienstmädchen, das ihr die Haare flocht.
»Oh, das habe ich völlig vergessen, Miss!« Betty huschte zu dem Stuhl, auf dem sie beim Hereinkommen etwas abgelegt hatte, und holte es herbei. »Lady Minerva sagte, Sie könnten ihre Pelerine tragen, wenn Sie möchten.« Sie drapierte den breiten Spitzenkragen über Marias Schultern und knöpfte ihn über dem Dekolleté zu. »Sie bat mich, Ihnen zu sagen, wie sehr sie es bedauert, dass sie keine Kleider hat, die Ihnen passen, aber vielleicht hilft Ihnen das hier weiter.«
»Das ist sehr freundlich von ihr.« Maria betrachtete ihr Spiegelbild und seufzte. »Schade, dass es dieses Kleid nur ein kleines bisschen weniger vulgär erscheinen lässt.«
»Ja, Miss.« Das Mädchen errötete. »Ich meine, nein, Miss, es sieht doch nicht vulgär aus!«
Betty war ein furchtbar eilfertiges Dienstmädchen. Seit sie hereingekommen war, als Maria gerade ihr Bett machte, hatte sie sich geradezu übereifrig um sie bemüht. Sie flatterte in einem fort um Maria herum und versuchte, ihr bei Verrichtungen zu helfen, bei denen sie gar keine Hilfe brauchte. Und sie war noch emsiger geworden, als Maria sich nicht davon abbringen lassen wollte, diese Dinge selbst zu erledigen.
»Sagen Sie mir, was Sie wirklich von dem Kleid halten, Betty. Das dürfen Sie ruhig.«
»Sie sehen sehr hübsch darin aus.«
Maria schnaubte. »Der Einzige, der so denkt, ist Ihr Herr!« Und das lag nur daran, dass der alte Schwerenöter eine offensichtliche Schwäche für üppige Dekolletés hatte.
In diesem Aufzug konnte sie unmöglich einen Ermittler aufsuchen. Er nähme ihr Anliegen gar nicht
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