Lord Stonevilles Geheimnis
gelegt hatten, verfehlte seine Wirkung nicht. Es stammte von der größten Kuh der Gemeinde.«
Oliver und Minerva lachten. Mrs Plumtree hingegen saß schweigend und offensichtlich empört über das ganze Gespräch neben Maria.
»Warum verspüren Jungs immer dieses Bedürfnis, eine riesige Ferkelei zu veranstalten, die andere dann wieder wegmachen müssen?«, fragte Minerva.
»Weil sie wissen, wie sehr sich die anderen darüber ärgern«, sagte Maria.
»Ich kann mir nicht erklären, wie Oliver ein derartiger Taugenichts werden konnte!« Mrs Plumtree brach zur Überraschung aller ihr Schweigen. »Mit vierzehn war er ein vollkommener Gentleman. Er hat mit seinem Vater die Pächter besucht, stundenlang beim Verwalter gesessen, um zu lernen, wie man Bilanzen erstellt …«
»So vollkommen war ich nun auch wieder nicht, Großmutter«, bemerkte Oliver mit einer gewissen Schärfe. »Ich hatte schon damals meine Fehler.«
»Aber keine schlimmen. Erst als deine Eltern …«
»Hast du vergessen, wie oft ich in Eton in Schwierigkeiten geraten bin?«, erwiderte Oliver.
»Papperlapapp, das waren doch alles nur Dummejungenstreiche, und du warst dort nicht der einzige Schlingel. Wenn du in den Ferien nach Hause kamst, hast du dich stets wie ein pflichtbewusster Sohn und der zukünftige Erbe eines großen Besitzes verhalten. Du hast fleißig gelernt und dich bemüht, etwas für das Haus zu tun. Du warst ein verantwortungsbewusster junger Mann.«
»Du hast doch keine Ahnung, was ich war!«, fauchte Oliver sie an. »Die hattest du nie!«
Maria spürte, wie Mrs Plumtree neben ihr erstarrte, und sie fühlte mit ihr. Die alte Dame war vielleicht allzu überzeugt von sich und mochte recht drakonische Vorstellungen davon haben, wie das Leben ihrer Enkel auszusehen hatte, doch es war deutlich zu sehen, dass sie sie auf ihre Art liebte.
Oliver atmete tief durch. »Verzeih mir«, sagte er steif. »Das war unpassend.«
»Allerdings«, bemerkte Maria. »Deine Großmutter hat doch sehr nette Dinge über dich gesagt.«
Er sah sie grimmig an. »Sie hat einmal mehr darauf hingewiesen, wie sehr ich meine Familie enttäuscht habe!«
»Wenn dir das nicht gefällt«, entgegnete Maria, »warum hörst du dann nicht auf, sie zu enttäuschen?«
»Touché, Maria«, sagte Minerva leise.
Oliver biss die Zähne zusammen und schaute aus dem Fenster. Er wäre wohl am liebsten ganz weit weg von ihnen allen gewesen. Und während er sich in sich selbst zurückzog, begann Minerva, Geschichten aus seiner Kindheit zum Besten zu geben.
Maria war wider Willen völlig bezaubert von ihren Erzählungen. Sie musste über die Geschichte lachen, wie Oliver beim Fischen in den Teich von Halstead Hall gefallen war. Er hatte versucht, die Fische zu beschwören, wie die Inder es mit ihren Schlangen taten. Und sie gab sich alle Mühe, nicht zu lachen, als Minerva erzählte, dass Oliver Gabe einmal etwas von seinem Stück Kuchen abgeluchst hatte, indem er behauptete, es könne vergiftet sein, und er müsse erst einmal den Vorkoster spielen.
Doch eine Geschichte brachte Maria fast zum Weinen: Ein Junge hatte die fünfjährige Minerva an den Haaren gezogen, und Oliver war ihr zu Hilfe geeilt und hatte dem Bengel einen Fausthieb verpasst. Den Oliver, der seine Schwester verteidigte, gab es immer noch. Er zeigte sich ihr von Zeit zu Zeit. Aber wo war der andere geblieben, der sorglose, unbekümmerte Oliver? Seine Geschwister schienen nicht annähernd so verbittert über den tragischen Tod der Eltern zu sein wie er. Lag es nur daran, dass er der Älteste war und alles viel intensiver miterlebt hatte? Oder machte ihm noch etwas anderes zu schaffen?
Als die Kutsche plötzlich mit einem Ruck zum Stehen kam, schaute Maria aus dem Fenster. Zu ihrer Überraschung waren sie bereits in der Stadt. Dank Minervas Geschichten war die Zeit wie im Flug vergangen. Nun standen sie in einer Schlange aus zahllosen Gefährten auf einer von Gaslaternen beleuchteten Straße mit unglaublich prächtigen Häusern. Es handelte sich offenbar um den wohlhabenden Teil der Stadt.
»Aha«, sagte Mrs Plumtree, »wir nähern uns dem Foxmoor’schen Anwesen. Es war vorauszusehen, dass es hier ein großes Gedränge geben würde.« Sie sah Oliver scharf an. »Du willst also allen Ernstes heute Abend die Gesellschaft schockieren, indem du deine Verlobung mit Miss Butterfield bekannt gibst?«
»Natürlich«, entgegnete Oliver ohne das
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