Lords of Salem: Roman (German Edition)
schlafwandeln. Vielleicht träume ich , dachte sie. Vielleicht lag sie schlafend im Bett und wartete darauf, dass der Albtraum begann.
Doch es fühlte sich nicht an wie ein Traum. Es fühlte sich echt an. Sie war hier, und die Sonne schien; die Luft war frisch, aber es wehte kein Wind. Sie spazierte mit Steve durch die Straßen von Salem, und die Leute, denen sie begegnete, wirkten normal und echt, und einige davon kannte sie sogar. Sie nickten ihr im Vorbeigehen zu oder sprachen ein paar Worte mit ihr, und sie gab sich Mühe, das Nicken zu erwidern oder zu antworten, doch an den besorgten Blicken, die sie ihr zuwarfen, sah sie, dass die Leute ihre geistige Abwesenheit bemerkten.
Warum war sie so müde? Letzte Nacht hatte sie ausnahmsweise keine Träume gehabt. Zumindest konnte sie sich nicht daran erinnern. Eigentlich konnte sie sich an kaum etwas erinnern, das sich nach der Radiosendung ereignet hatte, und auch an die Sendung selbst nur bruchstückhaft. Sie wusste noch, dass sie sich in der Toilette übergeben hatte und dass Herman ihr peinlicherweise gefolgt war, um sie zur Rede zu stellen und zu beschuldigen. Wie konnte er es wagen? Sie hatte nichts Falsches getan. Okay, gestand sie sich ein, vielleicht hatte sie ihm nicht alles erzählt, zum Beispiel, dass sie den Joint geraucht hatte, aber das hatte sie nur wegen der Träume getan, um sich zu beruhigen. Und es spielte auch keine Rolle – die wichtigen Dinge hatte sie ihm gesagt. Danach erinnerte sie sich noch, wie sie sich durch die Sendung gewurstelt hatte, und dass Whitey noch einmal die Lords aufgelegt hatte und etwas geschehen war. Sie schien sich einfach ausgeblendet zu haben. Und dann war sie im hellen Sonnenschein in ihrem Bett aufgewacht, viele Stunden später. Keine Träume, keine Erinnerungen, nichts. Trotzdem war sie noch erschöpfter gewesen als am Abend zuvor.
Doch Steve hatte nach draußen gemusst, deshalb hatte sie sich ächzend aus dem Bett gequält, ihn gefüttert und das Haus verlassen. Und jetzt war sie hier und hatte ihre Sonnenbrille vergessen, sodass sie ständig blinzeln und die Augen zusammenkneifen musste. Ein mieser Start in einen Tag, der mit Sicherheit grausam werden würde.
Sie ließ sich von Steve führen. Sie folgte ihm zu dem grünen und goldenen Schild mit der Aufschrift MAHNMAL FÜR DIE SALEMER HEXENPROZESSE , den gepflasterten Weg hinunter und an der Steinmauer entlang. Er ging langsam, schnüffelte und hob gelegentlich das Bein, um sein Revier zu markieren.
Als sie den Eingang erreichten, hatte Steve sein Geschäft verrichtet, doch etwas zog sie weiter. Sie war schon seit Jahren nicht mehr in der Anlage gewesen. Vielleicht wurde es wieder einmal Zeit. Vielleicht würde eine Konfrontation mit der Geschichte der Hexen in Salem die Dinge ein wenig zurechtrücken und helfen, ihre Träume nicht mehr ganz so seltsam erscheinen zu lassen.
Sie folgte dem Weg hinein und ging an der Mauer entlang, um sich die Mahnmale anzusehen. SARAH GOOD , ERHÄNGT , 16. JULI 1692, las sie. Jemand hatte eine Blume auf das Grab gelegt, eine rote Rose. REBECCA NURSE , ERHÄNGT , 19. JULI 1692. Dieser Grabstein war moosbewachsen und die Inschrift schwerer zu entziffern. Auf Susannah Martins Grab hatte jemand eine Maisstrohpuppe mit roten Bändern um Hals, Handgelenke und Taille hinterlassen. Auf ihrem Kleid stand etwas geschrieben, doch der Regen hatte die Worte verschmiert und unleserlich gemacht. Daneben lag ein Gebinde aus weißen Blumen. Sie war sich nicht sicher, um welche Art es sich handelte. Dort stand auch eine Kerze, deren Wachs eine plastische Pfütze auf dem Grab gebildet hatte.
Sie ging ein Stück weiter und entdeckte eine Steinplatte in der Erde, die ihre Mutter ihr in ihrer Kindheit einmal gezeigt hatte. Der Stein war mittlerweile verwittert und mit Moos bewachsen, doch die Inschrift war noch lesbar. GOTT WEISS , DASS ICH UNSCHULDIG BIN , stand dort. Sie betrachtete die Worte einen Augenblick ernüchtert, dann ging sie zu einem anderen Stein, der zum Teil unter der Mauer lag, die das Mahnmal umgab, sodass der hintere Teil abgeschnitten war. Seltsam, so etwas zu tun, dachte sie, wenn man bedachte, dass einige der Hexen getötet worden waren, indem man sie mit schweren Steinen erdrückte. Sie wischte den Kies zur Seite. BIS AN MEIN LEBENSEN …, stand dort. ICH BIN KEINE HEX …
Sie blieb eine Weile stehen und blickte auf den Stein, bis Steve an ihr zog, um sie zum Weitergehen zu bewegen. Hatte es ihr geholfen hierherzukommen?
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