Lords und Ladies
zunächst einmal ein Heer zulegen…
Ein kurzer Schrei deutete darauf hin, daß sich die erste Falkenkralle dieses Tages in Festgreifaahs Haut bohrte.
Shawn achtete nicht darauf – solche Schreie gehörten zu den allgemeinen Hintergrundgeräuschen des Schlosses. Er vertrieb sich gerade die Zeit damit, festzustellen, wie lange er die Luft anhalten konnte.
Er kannte verschiedene Methoden, sich die Zeit zu vertreiben, denn der Wachdienst gab ihm mehr als genug Gelegenheit dazu. Zum Beispiel hingebungsvoll in der Nase bohren – dabei verging die Zeit wie im Flug. Oder Melodien furzen. Oder auf einem Bein stehen. Wenn alles andere versagte und die Mahlzeiten nicht zu reich an Kohlehydraten gewesen waren, kam wie lange kann ich die Luft anhalten an die Reihe.
Tief unten knarrte es zweimal. Der Türklopfer war so sehr verrostet, daß er nur dann Geräusche verursachte, wenn man ihn nach oben zog – dann quietschte es – und anschließend mit ganzer Kraft nach unten drückte. Dann quietschte es erneut, und manchmal pochte es sogar dumpf.
Shawn holte tief Luft und beugte sich über die Zinnen.
»Halt!« rief er. »Wer da?«
»Ich bin’s«, ertönte es unten. »Deine Mutter.«
»Oh, hallo, Mama. Hallo, Frau Wetterwachs.«
»Sei ein guter Junge und laß uns herein.«
»Freund oder Feind?«
»Was?«
»Das muß ich fragen, Mama. So verlangt’s die Dienstvorschrift. Und du antwortest: Freund.«
»Ich bin deine Mutter.«
»Es muß alles seine Ordnung haben, Mama«, erwiderte Shawn im bedrückten Tonfall eines Mannes, der weiß, daß er bereits verloren hat. »Das ist sehr wichtig, weißt du.«
»Du riskierst, daß es gleich ›Feind‹ heißt, mein Junge.«
»Ich bitte dich, Mama!«
»Na schön. Die Antwort lautet: Freund.«
»Ja, und wenn du jetzt auch noch darauf hinweisen könntest, daß du…«
»Laß uns herein, Shawn Ogg.«
Shawn salutierte und hätte sich dabei fast selbst außer Gefecht gesetzt, weil er sich den Speerschaft ziemlich hart an den Kopf stieß.
»Sofort, Frau Wetterwachs.«
Sein rundes, ehrliches Gesicht verschwand hinter den Zinnen. Etwa eine Minute später rasselten die Ketten des Fallgatters.
»Wie hast du das angestellt?« fragte Nanny Ogg.
»Ganz einfach«, erwiderte Oma Wetterwachs. »Er weiß, daß du seinen hohlen Schädel nicht platzen läßt.«
»Nun, dazu würdest du dich ebensowenig hinreißen lassen. Das weiß ich genau.«
»Nein, das weißt du nicht. Du weißt nur, daß ich bisher keine derartigen Maßnahmen ergriffen habe.«
Magrat hatte diese Sache bisher für einen Witz gehalten, doch jetzt stellte sie sich als gar nicht so lustige Realität heraus. Im großen Saal des Schlosses gab es einen sehr langen Tisch: Verence saß am einen Ende und die zukünftige Königin am anderen.
Dabei ging es um die Etikette.
Dem König gebührte der Platz am oberen Ende des Tisches. Ganz klar. Doch wenn Magrat rechts oder links von ihm saß, so mußten sie beide den Kopf drehen, um miteinander zu reden, was sehr unbequem war. Also kam nur das andere Ende des Tisches und Rufen in Frage.
Und dann die Logistik der Anrichte. Die leichte Möglichkeit hätte darin bestanden, einfach hinüberzugehen und sich zu bedienen, aber das ließ sich nicht mit der königlichen Tradition vereinbaren. Wenn Könige damit begannen, sich selbst die Teller zu füllen, so stand das Ende der Monarchie unmittelbar bevor.
Unglücklicherweise bedeutete das, sie mußten sich von Herrn Spriggins bedienen lassen, der an einem schlechten Gedächtnis, nervösen Zuckungen und einem Gummiknie litt. Um die Speisen aus der Küche zu holen, benutzte er einen uralten und nervenaufreibend knarrenden Aufzug. Der betreffende Schacht funktionierte dabei wie eine sehr leistungsfähige Kühlanlage: Warme Mahlzeiten waren kalt, wenn sie den Saal erreichten, kalte noch kälter. Niemand wußte, was mit Eiscreme und dergleichen geschehen würde; wahrscheinlich hätte das Phänomen eine Neuformulierung der thermodynamischen Gesetze erfordert.
Die Köchin schien einfach nicht zu begreifen, was vegetarische Kost bedeutete. Die traditionelle Schloßküche bestand zum größten Teil aus arterienverkleisternden Spezialitäten und bot so viele saturierte Fette an, daß sie auf den Tellern kleine Lachen oder wabbelige Klümpchen bildeten. Gemüse diente nur dazu, Öl aufzusaugen, und in den meisten Fällen war es so gründlich gekocht, daß es sich als undefinierbare gelbe Masse präsentierte. Magrat hatte der Köchin Frau
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