Loreley
Buntvogel wollte sie zurückhalten, aber sie schüttelte seine Hand einfach ab.
»Ailis!«, keuchte ihr Jammrich hinterher. »Geh nicht hin! Die werden dich zerfle i schen!«
»Ohne Zähne?«, entgegnete sie spöttisch und trat a l lein vor die Tiere.
Der vorderste der fünf Bären riss das Maul auf und stieß einen markerschütternden Schrei aus. Fänge, so lang wie Ailis’ Daumen, blitzten im Mondlicht.
Vor Schreck war sie einen Augenblick lang wie g e lähmt. Keine Zähne, hatte Jam m rich gesagt. So weit sie sehen konnte, fehlte diesem hier nicht ein Einziger. Im Gege n teil: Die Kiefer des Bären sahen aus, als wären sie mit weißen Klingen bestückt, und jede einzelne wirkte scharf und lang genug, um einem Menschen den Garaus zu machen.
Sie hatte Angst, gewiss, spürte sogar Panik in sich au f steigen. Aber sie konnte jetzt nicht mehr umkehren. So viel zumindest hatte sie von ihrem Vater gelernt: Dreh keinem Tier jemals den Rücken zu, sonst erkennt es s o fort die Beute in dir. Aber ihr Vater war Jäger, und er ging auf die Tiere zu, um sie zu töten; sie hingegen wol l te den Bären helfen. Sie setzte all ihr Vertrauen in die Hoffnung, dass die Tiere dies auf irgendeine Weise wi t tern würden.
Hinter sich hörte sie den Anführer der Ungarn lachen, einige seiner Männer fielen leise mit ein. Buntvogel und die anderen zischten ihnen zu, sofort etwas zu unterne h men, doch der Ungar kicherte nur und sagte, er habe die Tiere befreit, werde sich aber lieber schlagen lassen, als sich ihnen noch einmal zu nähern.
Ailis’ Augen kreuzten den Blick des vorderen Bären. Auch die vier anderen Tiere regten sich, erhoben sich als schwarze Kolosse aus Pelz und Klauen über dem Rand des Plateaus.
Jemand in ihrem Rücken rief ihren Namen, doch sie erkannte nicht, wer es war. Rund zehn Schritte lagen zwischen ihr und dem Feuer, und mit einem Mal wusste sie selbst nicht mehr, was in sie gefahren war, gerad e wegs auf diese Bestien zuzugehen.
Aber waren sie das denn wirklich – Bestien?
Ailis presste die Lippen aufeinander. Etwas stieg in ihr auf, verdrängte ihre Furcht, brachte Gleichmut und – ja, Gewissheit. Sie konnte es schaffen!
Leise begann sie, eine Folge von Tönen zu summen. Die Klänge schienen sich ganz von selbst zu bilden, als wachse e twas in ihr heran, von dessen Existenz sie bi s lang nichts gewusst hatte. Es war eine Melodie, ohne Zweifel.
Und plötzlich begriff sie auch, woher sie stammte. Wer sie gesungen hatte. Was sie bewirkte.
Die Bären stiegen auf die Hinterbeine, alle fünf zugleich.
Ailis versuchte, sich auf die Augen der Tiere zu ko n zentrieren. Sie blickte tief hi n ein in diese dunklen, schimmernden Pupillen, jede so groß wie eine Münze. Sie sah Erkennen darin, ein Gefühl von Zusammengeh ö rigkeit. Die Melodie bewirkte etwas in diesen Tieren, ließ sie alle Befehle und Foltern vergessen, löschte die Dre s sur aus ihrem Denken, sogar jene letzte grausame Order, die sie zwang, selbst ohne Ketten nicht fortzulaufen.
Schwankend kamen die fünf Giganten auf Ailis zu, bildeten einen Kreis um sie, setzten sich. Senkten die mächtigen Schädel. Fünf feuchte Nasen berührten Ailis Hände und Beine, schnüffelten den Geruch ihres Kö r pers, erkundeten ihre Haut.
Die Melodie schien sich aus sich heraus zu erschaffen, aber tief in ihrem Inneren wusste Ailis, dass sie selbst diejenige war, die ihren Verlauf bestimmte. Sie hatte g e hört, wie das Echo die Tiere zum Lurlinberg rief. Nun musste sie die Töne umkehren, den Lockgesang und se i ne Wirkung ins Gegenteil wenden. Und obgleich sie nicht wusste, wie es zu tun war, tat sie es doch einfach! Es geschah fast ohne ihr Zutun, als erinnere sich etwas in ihr an längst vergessene Gesetze und Regeln. Ihr war, als höre sie, wie eine andere diese Töne ausstieß, dieses le i se, lang anhaltende Summen, das zugleich so traurig und so hoffnungsvoll klang.
Die Bären setzten sich in Bewegung, glitten in ihrem unbeholfen wirkenden Schlendergang den Hang hinauf, hoch zur Bergkuppe, gewaltige Silhouetten vor dem kl a ren Sternenhimmel. Sie überschritten den höchsten Punkt des Berges und trotteten auf der anderen Seite wieder hinunter, verschmolzen mit der Nacht und dem Boden und der Dunkelheit der Wälder.
Vor Ailis schien die Wirklichkeit einen Vorhang au f zureißen, schlagartig, und plötzlich war sie wieder sie selbst, einfach nur ein Mädchen, das nichts von dem vö l lig begriff, was um es herum geschah. Hinter ihr bega n nen
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