Loretta Chase
eines Tages verlässt und
zurück nach Manchester geht, weil wir so undankbar sind und ihr nur Ärger
machen. Aber das sagt sie nur so. Bis jetzt ist sie immer zurückgekommen. Sie
wollte da nicht weg, aus Manchester, aber Pa meinte, das muss sein, wegen der
Arbeit und weil das Leben hier billiger ist. Pip weiß, woran er bei ihr ist.
Der hat sie schnell durchschaut. Ein ganz Schlauer, der Pip.«
Als sie das
Haus verließen, führte Mr. Carsington Charlotte nicht zurück zu Jenkins und den
Pferden, sondern in die entgegengesetzte Richtung. Nach wenigen Schritten blieb
er in einem stillen Winkel nahe dem Kirchhof stehen.
»Ich glaube
nicht, dass Mrs. Tyler Pip mit nach Manchester genommen hat«, meinte er.
»Annie würde es uns gesagt haben. Sie machte mir nicht den Eindruck, als würde
sie uns etwas verheimlichen. Ganz im Gegenteil: Sie war erfreulich redselig.
Nun wissen wir wenigstens, warum die gute Mrs. Tyler stets so schlecht gelaunt
und hinter dem Geld her ist. Sie will weg von hier. Wenn ein paar dumme Adelige
sich bereitfinden, ihr einen absurd hohen Preis für Pip zu zahlen, müsste sie
dumm sein, das Geld nicht zu nehmen – und zurück nach Manchester zu
ziehen.«
»Aber was,
wenn sie Pip längst nicht mehr hat, sondern wenn Kenning ihn hat?«, fragte
Charlotte. »Vielleicht hat er ihr so viel geboten, dass sie nicht mehr
widerstehen konnte. Wenn Kenning Pip hat, wohin könnte er ihn wohl bringen?
Colonel Morrell meinte, er habe Fewkes außer Landes geschickt.« Der
nächstgelegene Hafen war Liverpool, keine vierzig Meilen entfernt, in wenigen
Stunden zu erreichen. »Was, wenn Pip bereits auf dem Weg nach Liverpool
ist?« »Wo auch immer er ist, wir werden ihn finden«, versicherte Mr.
Carsington ihr. »Allerdings dürften meine bescheidenen Mittel nicht reichen,
sollte es tatsächlich schon so weit gekommen sein.« Er zögerte kurz.
»Davon einmal abgesehen, ist es längst überfällig, mit deinem Vater zu reden.
Er muss die Wahrheit wissen. Es wäre besser, er erführe sie von dir als von
Morrell.«
Sie wandte
den Blick zur Kirche. »Wahrscheinlich hat er ihm längst alles erzählt.«
»Möglich. Vielleicht möchte er dir aber auch Gelegenheit geben, deine Antwort
zu überdenken, zur Vernunft zu kommen. Vielleicht wartet er in typisch
männlicher Manier darauf, dass dein typisch weiblicher Gefühlsausbruch sich
legt und du die Sache ganz pragmatisch betrachtest.«
»Das ist
durchaus möglich«, meinte auch sie. »Er schien wirklich perplex, als ich
Nein sagte. Für ihn bestand kein Zweifel, dass er mich vor mich selbst
rettet.«
»Wir
sollten nun lieber nach Lithby Hall zurückkehren«, fand Mr. Carsington.
»Je eher du mit deinem Vater sprichst, desto besser.«
»Ja, ich
weiß.« Ihr Verstand sagte ihr genau dasselbe, doch das Herz schlug ihr
derweil bis zum Hals und ließ ihr heiß und kalt zugleich werden.
»Er wird
dich nicht verstoßen«, beruhigte Mr. Carsington sie. »Dazu liebt er dich
zu sehr.«
»Ich
weiß!«, rief sie verzweifelt. »Das ist ja das Schlimme. Er wird zutiefst
verletzt sein – meinetwegen. Er wird sich grämen – meinetwegen. Er liebt mich
so sehr, mich, seine einzige, seine wunderbare, tadellose Tochter, seinen
Augapfel. Ich weiß, dass er mich nicht weniger lieben wird, aber es ist so ...
so schwer, so schrecklich, ihm zu sagen, dass ich nicht die bin, für die er
mich hält, zu wissen, dass ich seiner Liebe nicht würdig bin.«
»Vielleicht
sollten wir tauschen«, schlug er vor. »Dein Vater hält dich für
vollkommen. Meiner hält mich für einen hoffnungslosen Fall.«
»Ich fände
es leichter, deinem Vater gegenüberzutreten als meinem«, sagte sie. »Lord
Hargate würde mir klipp und klar sagen, dass mein Verhalten töricht und
beschämend war. Er würde mir sagen, wie sehr er sich meiner schäme, und dass
auch ich mich schämen sollte für all die Schwierigkeiten, die ich der Familie
bereite – und welch eine Erleichterung wäre es, das gesagt zu bekommen!«
»Das meinst
du jetzt«, sagte Mr. Carsington. »Ich würde dich gern hören, nachdem du
eine Stunde oder länger in der
Inquisitionskammer zugebracht hast, wo dein Charakter, deine Vorlieben, deine
Prinzipien, deine Überzeugungen, dein Verstand und deine Errungenschaften kurz
und klein geredet wurden. Das wenige, das übrig bleibt, wischt er mit einer
nachlässigen Handbewegung fort und zerstreut es in alle Winde.«
»Es wäre
eine Erleichterung«, beharrte sie. »Aber was bringt es, darüber
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