Loretta Chase
Kind, Charlotte. Hast du Fieber? Delirierst du
etwa?« »Ich hatte ein Kind, Papa«, sagte Charlotte. »Vor zehn
Jahren.«
Sie sah,
wie ihr Vater sich an die Lehne des Stuhls klammerte, auf dem ihre Stiefmutter
saß. Fragend schaute er zu Lizzie hinab, die ruhig zu ihm aufsah. »Was sagt sie
da, Lizzie?«
Beschwichtigend
legte Lizzie ihre Hand auf seine. »Als ich Charlotte vor zehn Jahren nach
Yorkshire brachte, erwartete sie ein Kind«, sagte sie sanft.
»Das glaube
ich nicht«, sagte Papa. »Das kann ich nicht glauben. Du hast mir gesagt,
sie wäre krank.«
»Das war
sie auch«, erwiderte Lizzie. »Sie war so außer sich, dass ich fürchtete,
sie könne sich etwas zuleide tun.«
»Sie hat
nicht gewagt, es dir zu sagen, Papa«, mischte Charlotte sich ein.
»Nicht
gewagt?«, wiederholte er. »Nicht gewagt?«
»Bitte, gib
nicht ihr die Schuld«, bat Charlotte. »Ich bin ganz allein dafür
verantwortlich, denn ich konnte es nicht ertragen, dass du davon wüsstest. Ich
schämte mich so sehr und ... war so verzweifelt, dass ich mir sehr wohl etwas
hätte antun können, wäre sie nicht gewesen. Lizzie hat mir das Leben gerettet,
Papa.Vergiss das bitte nie.«
»Wie könnte
ich das vergessen?«, entgegnete er. »Herrgott, Charlotte, wofür hältst du
mich eigentlich? Wovor hattest du denn Angst? Vor mir? Wann bin ich denn in
deinen Augen zu einem Ungeheuer geworden?«
»Nie«,
erwiderte sie. »Aber ich schämte mich. Ich ertrug es nicht, dass du wüsstest,
was ich getan habe. Ich ertrug es selbst kaum.«
»Du hättest
es nicht ertragen müssen«, sagte er. »Ich bin dein Vater. Wenn du Kummer
hast oder in Schwierigkeiten bist, kommst du zu mir – ich ertrage es für dich
und helfe dir. Warum bist du nicht einfach zu mir gekommen? Was habe ich nur
getan?« Ratlos schaute er Lizzie an. »Sie hätte zu mir kommen sollen,
Lizzie. Was habe ich getan, dass sie nicht zu mir gekommen ist?«
»Ich war
sechzehn«, sagte Charlotte. »Du warst alles, was ich auf der Welt noch
hatte. Als du Lizzie geheiratet hast ... hatte ich Angst und ... habe diese
schreckliche Sache getan. Als mir bewusst wurde, was ich da angerichtet hatte,
war es zu spät. Ich wusste, dass du mir verzeihen würdest. Du liebst mich so
sehr, dass du mir alles nachsiehst. Aber es war mir unerträglich. Ich konnte
den Gedanken nicht ertragen, dass du wüsstest, was ich getan habe, dass ich
nicht so tadellos bin, wie du glaubst, dass ich kein gutes Mädchen bin. Du
solltest nicht wissen, dass ich meine Unschuld fortgeworfen hatte – an einen
unwürdigen Mann und für nichts, nicht einmal aus Liebe. Ich wollte so gern die
wunderbare, vortreffliche Tochter sein, die du in mir sahst. Seit zehn Jahren
will ich das sein, doch es ist falsch, das zu wollen. Seit zehn Jahren denke
ich noch immer wie das sechzehnjährige Mädchen von einst. Zehn Jahre, in denen
ich noch immer nicht erwachsen geworden bin. Und mein kleiner Junge musste
während dieser zehn Jahre ohne mich aufwachsen.«
Auf einmal
war alles ganz einfach und klar: Sie hatte ihren Sohn für ihren Vater
aufgegeben – für den Vater, der ein solches Opfer niemals von ihr verlangt
hätte. Die Erkenntnis brach ihr das Herz. Sie spürte alles hervorbrechen, was
sie vor langer Zeit weggeschlossen hatte. All ihre
Wünsche und Sehnsüchte. Die Geschichten, die sie sich über ihr Kind ausgedacht
hatte, wie sie sich vorgestellt hatte, dass ihr kleiner Junge zu einem
fröhlichen Kind heranwuchs. Die Träume davon, was sie alles mit ihm erleben
würde. Auch die Ängste hatte sie weggeschlossen – die Angst, dass er zu schwach
gewesen war und niemals die Chance gehabt hatte, zu einem kleinen Jungen
heranzuwachsen. Alles war dort, tief in ihrem Herzen, verschlossen gewesen.
Zehn Jahre der Trauer, die in ihrem ganzen Ausmaß zu fühlen sie sich stets
versagt hatte. Zehn Jahre der Trauer, in denen sie sich nur ab und an ein paar
Tränen erlaubt, die sie spätnachts in ihr Kissen geweint hatte.
Doch nun
kamen die Tränen, bitter und unaufhaltsam, und sie wandte sich um zu Mr.
Carsington, der sie in seine Arme zog. Schweigend hielt er sie fest – nur sein
Herz hörte sie schlagen. Schwer und laut schlug es in seiner Brust. »Schon
gut«, sagte er leise. »Nun ist es geschafft.«
Morrell
mochte seine zahlreichen Orden und Auszeichnungen haben, dachte Darius, aber
Lady Charlotte hatte mindestens ebenso viel Mut und Tapferkeit bewiesen wie er.
Sie hatte
sich ihrem Vater gestellt, den sie so sehr liebte und
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