Loretta Chase
drehte Lord Hargate sich zum Fenster um, hinter dem sich eine große,
dunkle Gestalt abzeichnete. Dann tat sich das Fenster auf, und Rathbourne kam
hereingeklettert. Er schloss das Fenster hinter sich, klopfte sich ein paar
Blätter ab und wandte sich seinem Vater zu.
»Bitte
entschuldigen Sie die Verspätung, Sir«, sagte er. »Mit der Tür des
Arbeitszimmers scheint etwas nicht zu stimmen. Sie ließ sich nicht
öffnen.«
»Mrs.
Wingate hat sie abgeschlossen«, erwiderte Lord Hargate. »Sie wollte mir
mitteilen, dass sie dich für ihre eigenen Zwecke ausgenutzt hat, nun jedoch
deiner Perfektion überdrüssig ist und fortzugehen wünscht. Sie sorgt sich, dass
du ihr folgen und lästig werden könntest.«
»Mir
scheint, Mrs. Wingate ist böse gestürzt und hat sich den Kopf
angeschlagen«, sagte Rathbourne. »Keine zehn Minuten ist es her, dass ich
sie geradezu bekniet habe fortzugehen. Ich habe ihr sogar einen Wagen
bereitstellen lassen. Aber sie will einfach nicht gehen. So viel dazu, einem
lästig zu werden.«
»Ich wollte
Geld von deinem Vater«, sagte sie.
Rathbourne
schaute sie an. »Bathsheba«, sagte er.
»Ich will
fünfzig Pfund, dann verschwinde ich«, beharrte sie.
Diesmal
hoben sich Lord Hargates Brauen, alle beide. »Nur fünfzig?«, fragte er.
»Gewöhnlich pflegt es mehr zu sein.
Meinten Sie
nicht vielleicht fünfhundert?«
»Würde ich
glauben, dass Sie so viel bei sich trügen, würde ich wohl fünfhundert
meinen«, erwiderte sie. »Das Problem ist, dass ich nicht warten kann, bis
Sie die Summe besorgt haben. Olivia bekommt schon wieder Ideen.« Ihre
Tochter fing bereits an, von Dienstboten, seidenen Kleidern und weichen
Federbetten zu fantasieren, ganz zu schweigen von zwei Dutzend verschiedenen
Speisen, die allein zum Frühstück gereicht wurden.
»Aber nein,
Olivia bekommt einen Spaten«, berichtigte Lord Hargate. »Lord Mandeville
nimmt sie und Lord Lisle mit zum Mausoleum, um nach dem Schatz zu graben.«
»Nein.«
Bathsheba wandte sich an Rathbourne. »Was ist nur in ihn gefahren? Hat er sie
denn nicht durchschaut?«
»Sie lässt
nichts auf ihren Vater kommen und hat ihn sehr entschieden verteidigt, als sie
meinte, Mandeville hätte an seiner Ehre gerührt«, sagte Lord Hargate. »Das
hat Mandeville zutiefst gerührt. Ich könnte mir denken, dass er sich bei
Fosbury für sie einsetzen wird.«
»Nein!«,
schrie sie. »Rathbourne, das darfst du nicht zulassen! Die Wingates werden sie
mir wegnehmen, und sie ist doch alles, was ich h...habe.« Ihre Stimme
brach sich – und nicht nur ihre Stimme. Alle Angst und aller Kummer, die sie so
lange unterdrückt hatte, stiegen jäh empor und überwältigten sie. Die Tränen,
die sie so lange zurückgehalten hatte, strömten ihr die Wangen hinab.
Rathbourne
kam zu ihr und schloss sie in die Arme. »Sie werden sie dir nicht wegnehmen,
und sie ist längst nicht alles, was du hast«, sagte er. »Du hast auch
mich.«
»S...sei
doch nicht d...dumm«, schluchzte sie. »Ich w... will dich n...nicht.«
Sie stieß ihn von sich und wischte sich hastig die Tränen fort. »Ich will
f...fünfzig Pfund. Und meine Tochter. Und dann verschwinde ich.«
»Ich
bedaure, das ist unmöglich«, sagte Lord Hargate.
»Gut. Dann
eben zwanzig Pfund.«
»Zwanzig
Pfund?«, empörte sich Rathbourne. »Mehr bin ich dir nicht wert?«
»Deine
Großmutter hat darauf gewettet, dass es einiges mehr sein würde«, sagte
Lord Hargate. »Es beruhigt mich, dass sie sich zumindest in dieser Hinsicht
getäuscht hat.«
»Großmutter
weiß, was passiert ist?«, fragte Rathbourne. »Oh, aber warum frage ich
überhaupt? Natürlich weiß sie es. Sie weiß immer alles.«
»Was
glaubst du wohl, wer mir von deinen verrückten Eskapaden auf der Straße nach
Bath erzählt hat?«, erwiderte sein Vater. »Sie hat einen Brief von einem
ihrer Spitzel in Colnbrook bekommen. Natürlich habe ich kein Wort davon
geglaubt. Aus irgendeinem Grund hat deine Mutter dem Gerede jedoch Glauben
geschenkt. Wir haben eine Wette abgeschlossen, deine Mutter und ich. Vielleicht
kannst du dir vorstellen, wie mir zumute war, als ich entdecken musste, dass
sich alles als wahr herausstellen sollte. Und stell dir nur vor, wie mir erst
zumute war, als ich von Pardew, diesem kleinen Wichtigtuer, erfahren musste,
dass mein ältester Sohn sich zu nachtschlafender Stunde mit ein paar
betrunkenen Dorftrotteln geprügelt hat – noch dazu auf der königlichen
Landstraße! Derlei ist man von Rupert gewohnt, ja, man erwartet
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