Loretta Chase
Schmeicheleien gewohnt und bildete sich wenig darauf ein. Ihr
Aussehen war nicht ihr Werk.
Ihre Kunst
sehr wohl, und sie hatte hart dafür gearbeitet. Besonders stolz war sie auf
besagtes Aquarell von Hampstead Heath. Er hätte ihr gar kein besseres
Kompliment machen können.
Sie
errötete wie ein unbedarftes Schulmädchen. »In der Regel habe ich nur
Schülerinnen – und keine, die in den Kreisen Ihres Neffen verkehren dürften.
Die Räumlichkeiten sind auch nicht mehr das, was sie mal waren. Und Begabung
hin oder her – wir wissen beide, dass ich nicht geeignet bin. Sie mögen
bereit sein, meinen Hintergrund gnädig zu vergessen, aber Lord Lisles Familie
würde wohl Zustände bekommen.«
»Seine
Familie bekommt andauernd Zustände«, bemerkte Rathbourne. »Ich versuche,
ihnen möglichst keine Beachtung zu schenken. Wären Sie wohl so freundlich, mir
das Unterrichtszimmer zu zeigen und mir dabei zu helfen, es mir mitsamt
Schülern vorzustellen? Weil ich kein Künstler bin, ist meine Vorstellungskraft
leider beschränkt. Ich hoffe doch, dass die Klassen klein sind?«
»Montags
sind es acht Schüler«, sagte sie. »Hier entlang.« Sie führte ihn aus
dem Laden und die schmale Stiege hinauf.
»Mir acht
vorzustellen, dürfte im Bereich meiner Möglichkeiten liegen«, sagte er,
und seine tiefe Stimme klang in der beengten, düsteren Umgebung noch tiefer und
dunkler. »Nur Mädchen sagten Sie?«
»Nur
Mädchen.« Das Zeichenzimmer lag oben im zweiten Stock, doch sie war das
Treppensteigen gewohnt und dürfte eigentlich nicht so außer Atem sein, wie sie
es nun war. Sie war froh, dass er keine weiteren Fragen mehr stellte, bis sie
oben angelangt
waren.
Der
spärlich möblierte Raum war großzügig geschnitten und verfügte über eine
stattliche Anzahl Fenster. »Die Lichtverhältnisse sind gut«, sagte sie,
»besonders am Nachmittag. Sauber ist es auch. Ich benutze die Räumlichkeiten
abwechselnd mit anderen – allesamt auch Lehrerinnen. Wir teilen uns die Miete
und nehmen die Dienste einer sehr pflichtbewussten Putzfrau in Anspruch.«
Sie zeigte
ihm die Staffeleien, die in einer Ecke des Zimmers ordentlich hintereinander
gestapelt standen. »Meine Schülerinnen sind die Töchter wohlhabender Kaufleute.
Manche von ihnen sind ein bisschen verwöhnt, weshalb ich ihnen als Erstes
beigebracht habe, wie wichtig es ist, am Arbeitsplatz Ordnung zu halten.«
Er trat ans
Fenster, verschränkte die Hände hinter dem Rücken und sah hinaus. Ihr fiel auf,
dass er gar keine Kopfbedeckung mehr trug. Sie schaute sich um und sah seinen
Hut auf einem der Stühle liegen. Er musste ihn abgenommen haben, als er das
Zimmer betreten hatte. Weder wusste sie, warum sie das überraschte, noch ob es
tatsächlich Überraschung war, was sie empfand. Das milde Nachmittagslicht fiel
auf sein dunkles Haar, das glänzte und doch frei war von Pomade. Es ließ eine
leichte Neigung zum Locken erkennen, die wohl stärker zu sehen sein würde, wenn
es nass wäre.
Stell ihn
dir bloß nicht nass vor, befahl sie sich.
Seine tiefe
Stimme holte sie zurück vom gefährlichen Rand des Abgrunds. »Was bringen Sie
den Mädchen sonst noch bei?«, wollte er wissen. »Was ist Ihre
Methode?«
Sie
erklärte ihm, dass sie mit einfachen Stillleben beginne, für die sie ihre
Schülerinnen Gegenstände von zu Hause mitbringen und sie nach ihren eigenen
Vorstellungen arrangieren lasse. »Für den Anfang vielleicht ein paar Früchte
oder eine Tasse und einen Teller«, sagte sie. »Später lasse ich sie etwas
schwierigere Kompositionen abzeichnen – eine Haube mit einem Paar Handschuhen
und einem Buch beispielsweise. Wenn das Wetter es erlaubt, gehen wir hinaus und
üben dort – Bäume, Fassaden, Schaufenster.«
»Warum
gehen Sie mit ihnen nicht einfach in die Royal Academy und lassen sie die Werke
anderer Künstler kopieren?«, fragte er, den Blick noch immer aus dem
Fenster gerichtet.
»Es wäre
für meine Schülerinnen gewiss nicht die beste Methode«, erwiderte sie.
»Die Mädchen wollen keine Künstlerinnen werden, sondern kultivierte Damen mit
künstlerischen Fertigkeiten. Ihre Eltern wünschen, dass sie gesellschaftlich
aufsteigen. Ich bringe meinen Schülerinnen das Sehen bei. Ich lehre sie
Prinzipien der Komposition und der Mechanik sowie künstlerische Techniken. Bei
mir bekommen sie ein Auge für Qualität.
Was sie bei mir lernen, können sie später auch auf andere Bereiche des Lebens
anwenden.« Vergebens versuchte sie sich vorzustellen, welchen
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