Loretta Chase
Menge, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was de
rigueur wohl bedeutete.
Als sie
außer Hörweite waren, meinte er: »Ich bin also ein Lakai ...«
»Sie hätten
sich nicht so vornehm gekleidet hier blicken lassen sollen«, sagte sie.
»Offensichtlich
wissen Sie nicht, wie man inkognito reist.«
»Der
Gedanke kam mir gar nicht.«
»Das sehe
ich. Zu unserem Glück stammt einer von uns beiden von einer langen Ahnenreihe
begabter Lügner ab. Sie als Lakaien auszugeben erklärt sowohl Ihre elegante
Kleidung als auch
Ihr anmaßendes Gebaren.«
»Mein
anmaßendes ...«, Er hielt inne. »Sie laufen in die falsche Richtung. Zum Bleeding
Heart Yard geht es da entlang.«
Wie
angewurzelt blieb sie stehen. »Sie haben herausgefunden, wo ich wohne.«
Er nickte
über dem Stapel Pakete, die ihm bis ans Kinn reichten. »Es ist nicht Pophams Schuld.
Ich habe ihn genötigt. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan – es ist mir
zuwider, jemanden zu nötigen. Aber ich war ... außerordentlich verärgert.«
»Wegen
Popham?«
»Wegen
Atherton. Meinem Schwager.«
»Warum
haben Sie dann nicht Ihren Schwager genötigt?«
»Weil er in
Schottland ist. Hatte ich Ihnen das nicht erzählt?«
»Mylord«,
sagte sie und seufzte in leiser Verzweiflung.
»Ah, hier
ist ein stiller Kirchhof«, sagte er und deutete mit dem Kinn. »Warum gehen wir nicht
hinein? Dort können wir ungestört sein, ohne Anstoß zu erregen.«
Da war sie
sich nicht so sicher, aber solange er alle Hände voll mit den Paketen zu tun hatte
...
Sie trat
ein und blieb nahe des Tors stehen.
Er stellte
ihre Einkäufe auf einem Grabstein ab. »Ich muss Peregrine in zwei Wochen nach
Schottland bringen«, begann er. »Sein Vater hat unsere sorgsam
ausgearbeitete Vereinbarung über den Haufen geworfen. Er hatte jüngst einen
Anfall von väterlichem Pflichtgefühl und daher beschlossen, seinen Sprössling
der Heriot's School in Edinburgh zu überantworten.
Sie
unterdrückte einen tiefen Seufzer. Lebt wohl, ihr schimmernden Münzen, dachte
sie. »Ist das nicht eine ziemlich gute Schule?«, fragte sie.
»Peregrine
wird niemals in einer unserer traditionsreichen
Schulen zurechtkommen«, beschied er kurz angebunden. »Aber das kann man
Atherton nicht begreiflich machen, schon gar nicht per Brief. Man kann ihm
ohnehin kaum etwas begreiflich machen. Er ist viel zu ungeduldig, zu impulsiv
und überspannt, um zu einer vernünftigen Entscheidung zu finden.«
Zu
Bathshebas Überraschung begann Lord Rathbourne unruhig auf und ab zu gehen. Er
tat es mit Anmut – gewiss, war er doch perfekt –, aber zugleich mit so viel
unterdrückter Energie, dass die Luft um ihn her knisterte vor Spannung.
»Wenn er die
Angelegenheit vernünftig betrachten würde«, fuhr er fort, »würde er
einsehen, dass die Methoden britischer Internate unvereinbar sind mit
Peregrines Charakter. Alles muss man auswendig lernen. Es wird erwartet, dass
man fraglos tut, was einem gesagt wird, dass man Dinge wortgetreu aufsagt, ohne
überhaupt zu verstehen, was man da von sich gibt. Wenn Peregrine darauf beharrt
zu wissen, was er lernt und warum, wird ihm das bestenfalls als
Respektlosigkeit auslegt, schlimmstenfalls als Gotteslästerung. Dann wird er
bestraft. Die meisten Jungen haben nach ein paar Schlägen verstanden, dass sie
fortan lieber den Mund halten sollten. Peregrine ist aber wie nicht die meisten
Jungen. Von ein paar Schlägen lässt er sich nicht einschüchtern. Warum kann
sein Vater das nicht begreifen, wenn es sogar seinem Onkel offensichtlich
ist?«, schloss besagter Onkel und schüttelte die Faust.
»Vielleicht
weil es dem Vater an Fantasie mangelt und an der Fähigkeit, sich wie der Onkel
in den Jungen hineinzuversetzen«, meinte sie.
Jäh blieb
Rathbourne stehen. Entgeistert blickte er auf seine zur Faust geballten Hand
und blinzelte. Er öffnete sie und fuhr sich kurz über seinen Rock. »Was Sie
nicht sagen. Man sollte eigentlich meinen, dass Atherton genügend Fantasie für
ein halbes Dutzend Männer hat. Gewiss aber mehr als ich.«
»Eltern
haben oft einen sehr sonderbaren Blick auf ihre Kinder«, sagte sie. »Sie
können in mancher Hinsicht blind sein. Durchschaut Ihr Vater denn Sie?«
Einen
Augenblick lang sah er geradezu schockiert aus, und ihr erging es ähnlich, als
sie eine so deutliche Gefühlsregung an ihm wahrnahm. Bislang hatte sie stets
seine absolut unerschütterliche Miene zu sehen bekommen.
»Das will
ich nicht hoffen«, sagte er.
Sie lachte.
Sie konnte nicht
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