Loretta Chase
anders. Es war nur ein kurzer Moment gewesen – längst war
seine Miene wieder unergründlich –, aber während dieses Augenblicks hatte er so
erschrocken ausgesehen wie ein auf frischer Tat ertappter Schuljunge, und sie musste sich
eingestehen, dass sie gerne wüsste, wie er als kleiner Junge ausgesehen hatte.
Ein
gefährlicher Gedanke.
Eine Weile
stand er da, schaute sie an und lächelte sein angedeutetes Lächeln. Dann kam er
auf sie zu. »Haben Sie sich mir wirklich in den Weg geworfen?«, fragte er.
»Das sollte ein Scherz sein«, sagte sie. »Die Wahrheit ist, dass ich außer
mir war vor Schreck, Sie in der Charles Street zu sehen. Ich wünschte, Sie
würden mich, wenn Sie das nächste Mal nach mir suchen, vorwarnen. Ich würde nur
ungern vor Schreck in ein Schaufenster laufen und mir ein blaues Auge holen
oder über den Bordstein stolpern und mir den Knöchel brechen.«
Nun war er
zu nah gekommen, und sein Blick war wie ein Magnet, der den ihren unweigerlich
anzog. Einen Moment hatte sie sich hinreißen lassen – gerade mal einen Atemzug
lang, doch lang genug, um sich in seine Tiefen locken zu lassen. In diese
dunklen Augen zu blicken, war, als würde man einen langen, dunklen Korridor
hinabblicken. Spannend. Viel zu
spannend. Sie wollte herausfinden, was sich am anderen Ende befand, wer dort war,
und wie weit der Weg wäre von dem Mann, der sich nach außen zeigte, und dem
Mann, der er im Innern war.
Sie wandte
den Blick ab. »Womit ich natürlich keineswegs sagen wollte, dass Sie nach mir
suchen sollen«, fügte sie rasch hinzu. »Es war nicht als Einladung
gemeint.«
»Ich weiß, dass ich nicht hätte kommen sollen«, sagte er.
»Ich hätte Ihnen schreiben können. Und doch bin ich hier.«
Noch einmal
durfte sie der Versuchung nicht nachgeben, ihn anzuschauen. Fest richtete sie
ihren Blick auf den Grabstein, auf dem ihre Pakete lagen.
»Ja, nun
... ich muss gehen«, sagte sie. »Olivia kommt bald von der Schule nach
Hause, und wenn ich nicht da bin, wird sie sich irgendetwas zu tun suchen.
Meist ist das etwas, von dem man wünschte, sie hätte es nicht getan.«
»Ah, ja,
wie unachtsam von mir.« Er wich zurück und suchte ihre Sachen zusammen.
»Ich hätte Sie überhaupt nicht behelligen sollen, und nun verschlimmere ich
mein Vergehen noch, indem ich zu viel Ihrer Zeit beanspruche.«
Er hatte
längst nicht genügend ihrer Zeit beansprucht. Sie hatte nicht mal einen
Bruchteil dessen herausgefunden, was sie gerne wissen würde.
Denk an
deine Tochter, ermahnte sie sich. Interesse an diesem Mann ist ein Luxus, den
du dir nicht leisten kannst.
»Es wäre
mir lieber, meine Sachen nun selbst zu tragen, Mylord«, sagte sie. »Ein
Lakai dürfte im Bleeding Heart Yard etwas fehl am Platz sein. Es wäre das
Beste, wenn wir nun getrennter Wege gingen.«
Benedict
wollte nicht getrennten Weges gehen.
Er wollte
da bleiben, wo sie war, wollte mir ihr reden, sie anschauen, ihr zuhören. Sie
hatte gelacht – über seine wahrscheinlich
höchst amüsante Miene des Entsetzens, als sie ihn gefragt hatte, ob sein Vater
denn ihn durchschaue.
Der Klang
ihres Lachens hatte ihn überrascht. Es war ein tiefes, kehliges Lachen. Ein
geradezu durchtriebenes Lachen. Sinnliches Schlafzimmerlachen.
Das Lachen
schien noch immer nachzuhallen, als er zu seiner Droschke zurückkehrte. Auf der
Heimfahrt schwebte es gleichsam neben ihm her. Es folgte ihm bis ins Haus und
hinauf in Peregrines Zimmer.
Dort fand
er den Jungen auf der Fensterbank kniend vor, über einen kolorierten
Kupferstich in Belzonis Buch gebeugt. Zu sehen war die Decke eines
Pharaonengrabes mit einer Fülle seltsamer Zeichen und Figuren, die mit Gold auf
schwarzen Grund gemalt waren – vermutlich eine Darstellung des Nachthimmels und
der Sternbilder, wie die alten Ägypter sie sich gedacht hatten.
Benedict
wollte sich nicht groß den Kopf darüber zerbrechen. Die alten Ägypter gingen
ihm gewaltig auf die Nerven.
Er teilte
dem Jungen Athertons Entscheidung mit.
Peregrine
runzelte die Stirn. »Das verstehe ich nicht«, sagte er. »Vater meinte, er
hätte genug davon, mich zur Schule zu schicken. Er hat gesagt, von ihm aus
könne ich ein ignoranter Analphabet bleiben. Und wer sich nicht wie ein
Gentleman zu benehmen wisse, sei der Bildung eines Gentlemans nicht würdig. Und
außerdem solle ich ...«
»Offensichtlich
hat er seine Meinung geändert«, unterbrach ihn Benedict.
»Das kommt
jetzt ausgesprochen ungelegen«, sagte Peregrine. »Ich habe mein
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